"Wir kehren in die neunziger Jahre zurück", seufzen russische Wirtschaftsfachleute und denken dabei an Zustände wie im Wilden Westen. Ex-Präsident und Radikal-Propagandist Dmitri Medwedew schäumte, fortan werde Russland keine Rücksicht auf die "Psyche" des Westens mehr nehmen: "Jeden Tag müssen wir versuchen, den Ländern, die unserem Land und allen unseren Bürgern diese Sanktionen auferlegt haben, größtmöglichen Schaden zuzufügen. Schaden in allem, was Schaden anrichten kann. Schaden für ihre Volkswirtschaften, ihre Institutionen und ihre Herrscher. Schaden für das Wohlergehen ihrer Bürger." Medwedew profiliert sich seit langem mit unverhüllten Drohungen und wohl kalkulierten Wutanfällen. Selbst russische Journalisten nehmen ihn kaum noch ernst.
Grund für den Aufruhr: Auf Druck der amerikanischen Regierung musste die Moskauer Börse den Devisenhandel mit Dollar und Euro einstellen. Das führte zu langen Schlangen vor den russischen Wechselstuben, wilden Gerüchten im Netz und einer Flut von mal hämischen, mal besorgten Kommentaren von Politologen, Ökonomen und Politikern. Nicht gerade hilfreich war dabei der Hinweis von Zentralbankchefin Elwira Nabiullina, die Devisenpreise würden künftig "aufgrund von Daten aus der Finanzbranche" ermittelt.
"Nachtwächter mit Taschenlampe"
"Der Wechselkurs des Dollars soll also von zwielichtigen Geschäftsleuten in geheimer Absprache mit korrupten Beamten bestimmt werden. Millionen von Menschen bereiten sich eilig darauf vor, Dollars zu kaufen oder zu verkaufen. Ich selbst habe mich noch nicht entschieden. Die Zentralbank spricht so, dass es niemand versteht", so Propagandist Sergej Markow, der fürchtete, dass der Dollar in Russland "wie ein wild gewordenes Reh" in die Höhe springen wird: "Genossen Kommissare von der Zentralbank, bitte beruhigt die Leute", flehte er [externer Link]: "Unser Präsident sagt doch immer, wir hätten Millionen von Dollar für regnerische Tage aufbewahrt."
Vor allem "psychologisch" drohten den Russen schlimme Zeiten, so russische Fachleute, denn der Dollar habe immer eine gewisse Sicherheit suggeriert und größere Geschäfte, etwa bei Immobilien, seien grundsätzlich in der US-Währung abgewickelt worden. Auch Spargroschen wurden gern in Dollar getauscht: "Der Rubel ist zu unzuverlässig."
"Geldkreislauf ohne Grundlage"
Der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Ökonom Igor Lipsitz hält Putins Wirtschaft für einen gewaltigen Schwindel, da der liquide Teil der nationalen Finanzreserve inzwischen nur noch etwa umgerechnet 52 Milliarden Euro ausmache [externer Link]. Das reiche gerade mal, um drei Monate lang die Importe zu bezahlen und sei obendrein optimistisch geschätzt, denn von diesen liquiden Mitteln stecke ein Großteil in Goldanlagen, die einstweilen wegen westlicher Sanktionen nicht zu Geld gemacht werden könnten.
Das düstere Fazit von Lipsitz: "Die russische Währung ist durch nichts gedeckt. Die Zentralbank nimmt nicht verwertbare Goldreserven vom Finanzministerium in Zahlung und bringt dafür Rubel aus der Druckerpresse in Umlauf. Das Ministerium hält sich mit ungesicherten Anleihen über Wasser. Die Zentralbank wiederum nimmt diese Papiere von den Banken trotzdem als Sicherheit und räumt ihnen dafür im Gegenzug weitere ungesicherte Kredite ein. Das ist ein Geldkreislauf ohne Grundlage, denn die einzige materielle Basis der russischen Wirtschaft sind Waffen." Auch Ökonom Andrei Jakowlew ist überzeugt, dass Putins wundersamer Geldvermehrung das "Schlimmste" bevorsteht und eine massive Haushaltskrise droht.
"Schaltet das Licht aus"
In Russland gelte sowieso immer die Devise: "Richtet euch auf das Schlimmste ein", so Zeitungsleser sarkastisch. Manche posteten Klagen, wonach für Sneaker-Schuhe, die im Westen für 65 Euro zu haben seien, in Russland bereits umgerechnet 190 Euro hingeblättert werden müssten. Andere erinnerten an die Lebenslügen der alten kommunistischen Zeiten, wo ein Dollar offiziell 60 Kopeken kostete, aber für Gutscheine, um diesen Kurs zu bekommen, zehn Rubel verlangt wurden: "Kurz gesagt, es ist Zeit zum Schlafen gehen. Schaltet das Licht aus!"
Was damit gemeint ist, erläutert ein weiterer russischer Kommentator so [externer Link]: "Ja, die meisten Europäer können sich nicht ausmalen, was wir aufgetischt bekommen. Wenn man dort hinkommt, ist man überrascht, dass sie zehn Quadratmeter große Badezimmer haben, hohe Zimmerdecken, viele Möbel aus Naturholz, Fensterbänke aus Marmor, teure Fensterrahmen – nicht unseren billigen Kunststoff. Sie haben dort noch nie in einer solchen Armut gelebt, wie die meisten von uns, und bei uns wird das nicht mal als Armut anerkannt. Ich spreche dabei nicht mal über die ganzen Tragödien von nationalem Ausmaß, wo Leute nicht mal ein Hundertstel von dem besaßen, was wir haben."
"Transparenz wird abnehmen"
Fast schon Realsatire sind Bemerkungen russischer Propagandisten, der internationale Handel Russlands könne ja überwiegend in chinesischen Yuan abgewickelt werden, ergänzt um den iranischen Rial und den von den Taliban in Umlauf gebrachten Afghani. Ein Parlamentsabgeordneter machte den exotischen Vorschlag, künftig "symbolische" Dollars an der Börse zu handeln, die mit synthetischen Wertpapieren unterlegt sein könnten.
In jedem Fall werde in Russland alles deutlich teurer, darin seien sich alle einig, so das allgemeine Fazit. Der russische Finanzexperte Paul Spydell prophezeite neben einem Einbruch der Importe eine daraus unmittelbar folgende galoppierende Inflation, weil der aufgeblähten Rubel-Menge jetzt noch weniger Waren gegenüber stünden. Er rechnet mit zunehmendem Tauschhandel wie im Iran, Schmuggel und Schattensystemen, ganz abgesehen davon, dass China Putin künftig voll und ganz die Rahmenbedingungen diktieren könne: "Die Transparenz wird abnehmen."
"Anhängsel der chinesischen Wirtschaft"
Ökonomen vermuteten, die Zentralbank selbst werde sich künftig am Verhältnis zwischen Rubel und dem chinesischen Yuan orientieren und daraus indirekt die Dollar- und Eurokurse ableiten. Ökonom Andrei Barkota sagte dem russischen Wirtschaftsmagazin Forbes [externer Link]: "Die Bank von Russland wird, was die Wechselkurse angeht, einem greisen Nachtwächter ähneln, der nachmittags um drei mit einer Taschenlampe seine Runde macht. Die Kursbildung erfolgt dann nicht mehr auf Grundlage einer großen Anzahl von Devisentransaktionen, sondern gemäß einer kleinen Anzahl diskret abgewickelter Transaktionen." Mit dem eigentlichen Geschehen am Markt habe das immer weniger zu tun.
Finanzanalyst Maxim Blunt fragte sich in einem Interview [externer Link], wie Putin aus der Krise herauskommen wolle, wo sich dessen Regierung doch entgegen anderslautender Propaganda-Behauptungen am US-Dollar orientiere: "Wenn beispielsweise ab dem kommenden Jahr der chinesische Yuan den Dollar in allen offiziellen Zusammenhängen ersetzt, wird es noch schlimmer kommen. Das wird ein absoluter und endgültiger Nachweis dafür sein, dass Russland seine Souveränität verloren hat und zu einem Anhängsel der chinesischen Wirtschaft geworden ist."
"Währung aus dem Land unserer Träume"
Genau dies stellt der kremlnahe Blogger Andrei Medwedew (184.000 Fans) in Abrede, mit einem verblüffenden Argument: "Vor zwanzig Jahren, als in Russland fast alles nur gegen Dollar verkauft wurde, sogar Lebensmittel, galt das als völlig normal. Bei der Festlegung der Preise in Dollar handelte es sich nach Meinung der damaligen russischen Ökonomen nicht um einen Souveränitätsverlust. Aber diese verquere Logik liegt auf der Hand: Es war halt die Währung des weißen Mannes aus dem Land unserer Träume." Insofern sei das "hysterische Klagen" über zu große Abhängigkeit von China fehl am Platz.
"Traum vieler 'Patrioten' rückt immer näher"
Tatsächlich müssen die Russen außerbörslich plötzlich deutlich mehr für die amerikanische Währung bezahlen, was sie allerdings noch mehr verunsichert: Der offizielle Kurs weicht immer mehr von den Anzeigentafeln der Wechselstuben und dem Schwarzmarktpreis ab. Erschwerend kommt hinzu: Wenn der Rubel nicht oder nur noch sehr umständlich eingetauscht werden kann, droht Russland der Zusammenbruch seiner Einfuhren, auch als "Grauimporte" bezeichnet, die meist in harter Währung bezahlt werden müssen: "Das Land nähert sich allmählich einem Mangel an importierten Waren. Der Traum vieler 'Patrioten', alles Westliche loszuwerden und zu den glorreichen Sowjetzeiten zurückzukehren, rückt immer näher", spottete einer der populärsten Blogger.
Politologe Dmitri Sewrjukow sprach von "gewissen Problemen", mit denen die Russen schon irgendwie klar kommen würden, gab sich aber dennoch beleidigt [externer Link]: "Aus geopolitischer Sicht kann der aktuelle Stand der Dinge nicht als fair bezeichnet werden, weil zwar viele Länder eine multipolare Weltordnung befürworten [so Putins Propagandaziel], aber Russland allein die Verantwortung für Fortschritte auf dem Weg dahin übernehmen muss, zwar mit stiller Sympathie, aber auch begrenzter Beteiligung seiner Partner." Der Westen wolle die "Lüftungsschächte" für den Kreml wohl abdichten und "neue Realitäten" schaffen.
"Behörden wollen Probleme nicht lösen"
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan spottete über den Kreml: "Sie arbeiteten dort hart daran, Ausgestoßene zu werden und erreichten schließlich ihr Ziel." Die Kosten für Putins "Angeberei" würden explodieren. Immerhin gebe es auch einen "Vorteil": Rubel seien im Ausland wertlos und müssten daher künftig im Land investiert werden, was zwangsläufig die Kapitalflucht beenden werde. Solange die derzeitige russische Elite allerdings an der Macht sei, werde das nicht zur wirtschaftlichen Belebung führen.
Der ebenfalls im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow lieferte eine originelle Erklärung dafür, dass die meisten Russen wohl auch die neuesten Zumutungen duldsam ertragen würden [externer Link]: "Revolutionen finden nur dann statt, wenn Menschen zu dem Schluss kommen, dass Armut und Ungerechtigkeit korrigiert werden können; dass es sich hierbei nicht um einen von Gott gegebenen Befehl handelt, sondern um das Ergebnis eines von den Behörden verfolgten Kurses. Sie sind jedoch sicher, dass die Behörden alle Probleme lösen könnten, aber aus irgendeinem Grund nicht wollen."
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!