"Seit der Westen den traditionellen Werten den Kampf angesagt hat, suchen die Menschen dort nach Erlösung. Wo ist der Ort dafür, an dem sie Schutz finden? Das ist natürlich Russland", sagte die nach Russland eingewanderte Italienerin Irene Cecchini kürzlich auf dem St. Petersburger Weltwirtschaftsforum. Dort hatte der Kreml zehn Fans aus der EU und den USA zusammengetrommelt, um eine Lobeshymne auf Putin zu singen und Europa zu geißeln [externer Link].
So durfte der in Kasachstan geborene frühere AfD-Bundestagsabgeordnete und notorische Kreml-Propagandist Waldemar Herdt einmal mehr behaupten, die EU sei Opfer einer "satanischen Sekte" geworden: "Nach meinen Schätzungen würden zwei bis zweieinhalb Millionen Deutsche gerne in einem Land mit geschützten traditionellen Werten leben und sind bereit, nach Russland umzuziehen."
"Über welche Werte sprechen wir eigentlich?"
Das ist die Tonlage, die das offizielle Moskau generell anstimmt, wenn es um die EU geht, ungeachtet der Tatsache, dass es genügend Russen gibt, die sich darüber weidlich lustig machen. So gab ein Leser zu bedenken, Russland sei inzwischen nur noch für Hochbetagte und Amische erträglich, also die Anhänger der Täufer-Sekte, von denen einige moderne Errungenschaften wie Fernsehen und Handy bis heute ablehnen: "Über welche Werte sprechen wir eigentlich? Sogar unser Präsident [Putin] ist geschieden!"
In Moskau laufe die Uhr "raketenmäßig" rückwärts, wurde gespottet: "Solche Diskussionsteilnehmer erhalten nach ihrem Auftritt vermutlich sowjetische Zigaretten und eine Packung Streichhölzer." Die St. Petersburger Zeitung "Fontanka" machte sich den Spaß, Putins illustre Gäste aus dem Westen als "Les Misérables" zu bezeichnen ("Die Elenden").
Wahlergebnis "kalte Dusche mit unangenehmem Geruch"
Vom Aufstieg rechtsextremer Parteien bei der Europawahl sind die russischen Propagandisten mäßig begeistert. "Die Zahl der politischen Widersprüche in Europa wächst, ist aber noch nicht kritisch geworden", so die politische Strategin Elena Panina: "Es besteht also kein Grund zur Entspannung." Gleichwohl sei das Wahlergebnis eine "kalte Dusche mit unangenehmem Geruch" für Europas Führung im Allgemeinen und das "liberale Duo" Frankreich und Deutschland im Besonderen.
Die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti verglich das Wahlergebnis speziell in Frankreich mit der Schlacht an der Beresina, wo Napoleon Ende November 1812 beim Rückzug aus Moskau eine vernichtende Niederlage erlitt [externer Link]. Emmanuel Macron könne sich jetzt eigentlich nur noch irgendwo als Hausmeister bewerben: "Er hat nur noch eine Wahl - seine Fehler einzugestehen und seine Mitbürger um Verzeihung zu bitten. Aber das wird nicht geschehen." Für Europa läute bereits die "Totenglocke".
"Silberstreif statt nuklearer Asche"
Dmitri Drise, der Kolumnist der liberalen Wirtschaftszeitung "Kommersant", machte "aggressive Klimaschützer" für das Wahlergebnis verantwortlich und verwies auf die Migration und Inflation als Hauptquellen des Wählerunmuts: "Aber Europas Bürger wollen immer noch gemeinsam in die Zukunft gehen und nicht zurück in die Vergangenheit. Und in eine freie Zukunft. Der Durchschnittsmensch braucht nicht viel. Aber jeder denkt natürlich an seine Zukunft. Wahrscheinlich wollen die Menschen einen Silberstreif vor sich sehen und nicht nukleare Asche und (oder) das Mittelalter."
Europa sei aus Sicht des Kremls jedenfalls nicht "zur Besinnung" gekommen, so Drise in einem recht süffisanten Ton: "Darauf müssen wir wohl noch etwas warten." Keine der siegreichen Parteien könne jedenfalls als pro-russisch bezeichnet werden: "Schauen Sie, Marine Le Pen, eine rechte Politikerin, erwies Wladimir Selenskyj einst stehend ihre Reverenz. Könnte sein, dass wir noch ziemlich lange auf Europas Erleuchtung warten müssen. Aber wir haben es ja nicht eilig."
"Alte sowjetische Auffassungen verankert"
Politikwissenschaftlerin Daria Gribowa freute sich auf eine Art Selbstblockade der EU durch die Stärkung der Rechten: "All das hängt mit der Verschlechterung des Lebensstandards der einfachen europäischen Bürger zusammen, die mittlerweile eher eine nationale Orientierung der politischen Eliten befürworten. In den kommenden Monaten wird es im Europäischen Parlament zu Auseinandersetzungen um die neue Zusammensetzung der Europäischen Kommission kommen, da Vertreter der rechten Kräfte die Vorschläge der parlamentarischen Mehrheit erfolgreich ausbremsen können, es ihnen aber aufgrund ihrer eigenen Uneinigkeit kaum gelingen dürfte, eigene Kandidaten durchzubringen."
Politologe Andrei Nikulin verbreitete Schautafeln des unterschiedlichen Wahlverhaltens in West- und Ostdeutschland, sowie im Westen und Osten von Berlin und erklärte dazu: "Da scheinen sich alte sowjetische Auffassungen tief im Unterbewusstsein verankert und eine neue Daseinsform angenommen zu haben." Offenbar seien Mentalitäten eine zähe Angelegenheit, denn in Polen folge das Wahlverhalten ziemlich genau längst vergangener Grenzen, je nachdem, ob die Regionen ehemals zu Österreich, Deutschland oder Russland gehört hätten.
"Was für ein wunderschöner Tag"
Andere russische Beobachter bezeichneten das Wahlergebnis für das europäische Establishment zu ihrem eigenen Bedauern als "nicht katastrophal": "In einer Reihe von Ländern schnitten die Euroskeptiker und die extreme Rechte schwächer ab als erwartet." Das gelte etwa für die Niederlande, Portugal und Ungarn. Selbst aus dem französischen Resultat könne Moskau wenig Honig saugen: "In außenpolitischen Fragen steht [der Vorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National, früher Front National] Jordan Bardella im Gegensatz zu vielen anderen französischen Rechtsextremen Russland sehr kritisch gegenüber und setzt auf eine Annäherung an die USA – in dieser Hinsicht steht er der Position von Giorgia Meloni nahe."
Der russische Politologe Michail Winogradow scherzte, nachdem Putin zunächst die Legitimität des ukrainischen Präsidenten Selenskyj infrage gestellt habe, weil dessen Amtszeit abgelaufen sei, setze der Kreml jetzt bei Emmanuel Macron und Olaf Scholz auf dieselbe Masche. Grund für diesen Ulk: Hochrangige russische Politiker wie Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin hatten gepostet, der französische Präsident und der deutsche Kanzler müssten zurücktreten und aufhören, sich "über ihre Bürger lustig zu machen". Sie hätten jegliches Vertrauen verloren.
AfD stärker als SPD: "Kreml macht Champagner auf"
Das EU-Parlament sei eigentlich "Schwachsinn", schimpfte der Nationalist und Wirtschaftsfachmann Marat Baschirow, der sarkastisch anfügte, Putin habe Olaf Scholz besiegt, denn das Kanzleramt behaupte ja immer, die AfD werde aus Moskau gesteuert. Jetzt sei die AfD stärker als die SPD: "Der Kreml macht den Champagner auf. Die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament stören den Rahmen für die schweizerisch-ukrainische Konferenz und die nächste Nato-Sitzung erheblich. Die europäischen Bürger wollen nicht gegen Russland kämpfen. Dann verwechselte Biden auch noch die Ukraine mit dem Irak [beim Besuch in der Normandie zum 80. Jahrestag des D-Day] und behauptete, der Irak müsse wegen des US-Kongresses zu lange auf Hilfe warten. Was für ein wunderschöner Tag."
"Was genau heißt das? Es bleibt unklar"
Ähnlich nüchtern gibt sich Politologe Oleg Sarew (310.000 Fans). Eine "Sensation" sei ausgeblieben, die EU werde weiterhin eine antirussische Politik verfolgen [externer Link]: "Sollte die Neuwahl in Frankreich zu einem Sieg der Euroskeptiker in einem der größten EU-Länder führen, würde das viele interne Probleme in der Europäischen Union verschärfen, was sowohl die Militärhilfe für Kiew als auch die Verhandlungen über den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union erheblich erschweren könnte." Zum deutschen Wahlergebnis bemerkte Sarew: "Die Deutschen verweigerten der Regierungskoalition das Vertrauen, insbesondere ihrem russophobsten Mitglied, den Grünen."
Der in den russischen Medien omnipräsente Propagandist Sergej Markow bilanzierte: "Generell fordern die europäischen Wähler ein härteres Vorgehen. Aber was genau heißt das? Es bleibt unklar." Kremlsprecher Dmitri Peskow beließ es bei dem Satz: "Tatsächlich wird die Mehrheit im Europäischen Parlament pro-europäisch und pro-ukrainisch bleiben, aber wir müssen die zukünftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments erst noch analysieren."
"Alles fließt, alles verändert sich"
Politologe Konstantin Kalaschew räumte zwar ein, dass Rechtsextreme die "bisherige europäische Landschaft verändert" hätten, doch etwaige Zuversicht im Kreml sei verfrüht [externer Link]: "Die westeuropäischen Rechtsextremen sympathisieren mit Putin, solange sie in der Opposition sind. Sobald sich politische Perspektiven abzeichnen, beginnen sie, ihre Positionen zu überarbeiten. Die AfD distanziert sich von Mitgliedern, die als russische Einfluss-Agenten gelten. Die 'Fratelli d'Italia' von Premierministerin Meloni sind in keiner Weise prorussisch. Marine Le Pen verurteilt die russische Invasion in der Ukraine. Alles fließt, alles verändert sich. Jeder beweist in gewissem Maße Flexibilität. Ein Politiker vor der Wahl und nach der Wahl sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Vor allem, wenn es sich um einen Rechtspopulisten handelt."
Der in Russland lebende, frühere amerikanische Whistleblower Edward Snowdon schrieb auf X (vormals Twitter): "Politiker, die den Krieg unterstützen, wurden soeben in der EU hart abgestraft. Kein gutes Zeichen für Biden. Vielleicht ist es an der Zeit, dem Frieden eine Chance zu geben."
"Verluste für Parteien sind normal"
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan schrieb dagegen ironisch an die Adresse der Putin-Fans, die auf europäische Nationalisten hoffen: "In einem normal funktionierenden demokratischen System sind Verluste für die Parteien normal." Der russische "Hochadel" sei in derlei Angelegenheiten allerdings offenbar "nicht ausreichend geschult".
Nesmijan verwies bei dieser Gelegenheit auf den Tod des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt am 12. April 1945. Damals, kurz vor der bedingungslosen Kapitulation, habe Adolf Hitler allen Ernstes darauf gehofft, dass sich die Amerikaner doch noch mit ihm verbünden und gegen die Sowjetunion losschlagen würden: "Das haben sie bekanntlich nicht getan. In einem auf viele Schultern verteilten politischen System funktionieren Entscheidungen anders als in einem autoritären Staat. Aber der ist nicht in der Lage, diesen Unterschied zu begreifen. Insbesondere dann, wenn es eine negative Auslese bei der Personalauswahl gibt, was die Auffassungsgabe betrifft."
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