In St. Petersburg vor dem dortigen Weltwirtschaftsforum
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Putin vor internationalen Journalisten

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"Sind Sie so blöd wie der Tisch?": Putin verwirrt mit Drohungen

Vor internationalen Journalisten kündigt der russische Präsident an, Langstreckenwaffen an Terroristen zu liefern, um die Nato zu schwächen. Warum er damit unter Umständen die eigenen Landsleute verunsichert – eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Eine wachsweiche Position", meinte der russische Propagandist Sergej Markow ziemlich angesäuert nach dem jüngsten Auftritt von Wladimir Putin vor internationalen Journalisten beim St. Petersburger Weltwirtschaftsforum (SPIEF). Grund für Markows Unmut: Putin hatte vieldeutig und ausweichend geantwortet, nachdem er gefragt worden war, wie er auf Angriffe der Ukraine mit vom Westen gelieferten Waffen auf russisches Territorium reagieren würde. Der Kreml werde einerseits die Luftabwehr verbessern und denke andererseits darüber nach, so Putin, dieselbe Art von Raketen in Regionen zu liefern, von denen aus Angriffe auf "sensible Objekte" in Nato-Ländern möglich seien. Damit löste der Präsident ein allgemeines Rätselraten aus und erntete im eigenen Land nicht wenig Spott.

Auf Nachfrage, ob Russland etwa die Nato angreifen wolle, geriet Putin in Rage und beschimpfte den Fragesteller, ob er womöglich "so blöd wie die Tischplatte" sei, an der sie beide säßen. Das sei "Unsinn": "Schauen Sie sich doch das Potenzial der Nato und das von Russland an." Sein Land hege keine "imperialen Ambitionen", so Putin abwehrend [externer Link].

Putin: Festungshaft stärkte Hitler

Nebenbei empörte sich der Präsident des Langen und Breiten über Deutschland: "Als die ersten dort hergestellten Panzer auf ukrainischem Boden auftauchten, löste dies bei uns einen moralischen und ethischen Schock aus, da die russische Gesellschaft Deutschland schon immer sehr gewogen war." Wenn jetzt auch noch deutsche Raketen auf Russland abgeschossen würden, werde das die gegenseitige Beziehung "völlig zerstören". Wie sehr sich Putin dabei ereiferte, wurde mit seiner absurden Behauptung deutlich, Deutschland sei seit dem Zweiten Weltkrieg "nie ein souveräner Staat" gewesen.

Er ließ sich auch nicht nehmen, die AfD zu loben ("Keine Anzeichen von Neonazismus") und kritisierte den Umgang mit ihr durch die anderen Parteien: "Soweit ich mich erinnere, wurde Hitler einmal nach einem erfolglosen Putsch in Bayern in Festungshaft geschickt – seine Beliebtheitswerte stiegen sofort und seine zerstrittenen Parteiflügel scharten sich hinter ihm. Zuvor galt er nicht als national bedeutsamer Politiker, doch nach seiner Verhaftung wurde er einer."

"Wird Nato als sehr schwach empfinden"

"Wem hat Putin das eigentlich alles erzählt?", fragte sich nicht nur der oben erwähnte Markow konsterniert [externer Link]. Er interpretierte den Wortschwall des Präsidenten so, dass Russland möglicherweise Waffen an die Huthi-Terroristen im Jemen liefern wolle, um sich an der Nato zu rächen: "Niemand außer den Huthis will derzeit westliche Kriegsschiffe angreifen. Alle anderen haben Angst davor. Die US-Marine wird besorgt sein. Aber die gesamte Nato wird diese Reaktion Russlands als sehr schwach empfinden und aufatmen. Das wird Moskau dazu zwingen, den Druck zu erhöhen. Denn eine schwache Reaktion auf eine Eskalation ermutigt den Westen nur zu einer weiteren Verschärfung."

Auch Marina Achmedowa, Mitglied im russischen Menschenrechtsrat, zeigte sich verwundert über Putins aus ihrer Sicht nichtssagenden Auftritt. Sie vermisste eine "endgültige Entscheidung" mit "beängstigenden" Ankündigungen Richtung Nato: "Länder sind wie Menschen. Für ihre geistige Reife müssen sie persönliche Leidenserfahrungen durchmachen. In Amerika gab es die schon lange nicht mehr."

Noch mehr Waffenlieferungen an die Huthis seien allerdings wenig plausibel, argumentierte der Chefkolumnist der vielgelesenen Zeitung "Moskowski Komsomolez", Michail Rostowski [externer Link]: "Die Huthis stehen nicht nur im Konflikt mit Nato-Ländern, deren potenzielle Verluste Moskau sicherlich egal sind, sondern auch mit Staaten, die der Russischen Föderation 'freundlich' gegenüberstehen, wie Saudi-Arabien. Und der Kreml ist definitiv nicht in der Stimmung, 'freundliche' Menschen zu behelligen. Es stellt sich auch die Frage des Transports: Wie kann man Waffen liefern, um für den Westen sensible Ziele in anderen Weltregionen anzugreifen, ohne dass der Westen sie abfängt?"

"Könnte sich um Feinde von Pindostan handeln"

Den russischen Ultrapatrioten dürften die jüngsten Einlassungen Putins "kaum gefallen" haben, urteilte Politologin Ekaterina Winokurowa in einem der größten Nachrichtenportale: "Putin liebt es, mit Widersprüchen zu jonglieren, es scheint ihm also großen Spaß gemacht zu haben, in einem absichtlich friedfertigen Tonfall zu sprechen und vor dem globalen Hintergrund eher 'lässige' Aussagen zu machen."

Andere Putin-Interpreten zeigten sich weniger ironisch. So polterte Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der regelmäßig 1,35 Millionen Fans mit Propaganda-Parolen versorgt: "Lassen Sie die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten jetzt den direkten Einsatz russischer Waffen durch Drittstaaten spüren. Diese Personen oder Regionen werden von uns bewusst nicht namentlich genannt, aber es könnte sich um jeden Staat handeln, den Pindostan [russisches Schimpfwort für die USA] und seine Genossen als feindlich betrachten."

"Hebe Deine Faust - und schlage zu"

Der russische Rechtsextremist Igor Skurlatow (370.000 Follower) erlaubte sich, anders als Medwedew konkrete Länder zu nennen, die als Partner des Kremls bei Vergeltungsmaßnahmen gegen die Nato in Frage kämen [externer Link]: "Sie reden über den Iran und die Huthis, auch Syrien. Hm. Gut! Warum nutzen wir nicht gleichzeitig das befreundete Belarus (sonst sieht [der dortige Präsident] Lukaschenko jetzt wie ein Verräter an der russischen Welt aus)? Nicaragua, Kuba? Hauptsache ist doch, dass Worte nicht von Taten abweichen. 'Hebe deine Faust - und schlage zu'. Sonst wird man 'auf der Straße' platt gemacht. Darwins Gesetze funktionieren auch in der Politik." Diese Wortwahl verweist auf eine der derzeit erfolgreichsten russischen TV-Serien mit dem Titel "Blut auf dem Asphalt - das Wort eines Jungen", wo es um die Gang-Kriege der neunziger Jahre geht.

Skurlatows Hinweis auf Kuba erscheint insofern nicht ganz abwegig, als die dortige Regierung prompt bekannt gab, dass im Hafen von Havanna demnächst das russische Atom-U-Boot "Kasan" anlegen werde. Es werde gemeinsam mit drei weiteren russischen Kriegsschiffen vom 12. bis 17. Juni "zu Gast" sein. Atomwaffen führe allerdings keines der Schiffe mit sich, weshalb sie "keine Bedrohung" für die Region darstellten.

"Putin kann das nicht zulassen"

Exil-Politologe Wladimir Pastuchow tippte ebenfalls auf die Huthis im Jemen als möglicher Lieferadresse für russische Langstreckenraketen [externer Link]: "Wenn dem nicht so ist, dann machen Putins Drohungen überhaupt keinen Sinn – Kleinwaffen und andere Ausrüstungsgegenstände aus Russland gehen sowieso dorthin. Aber wenn dem so ist, dann werden sie sich für den 'Basar' verantworten müssen. Entweder folgen den Worten Taten, oder alles, was Sie sagen, wird als Bluff entlarvt. Putin kann das nicht zulassen. Das bedeutet, dass er seine Worte durch Taten bestätigen muss. Das alles macht unsere Welt nicht angenehmer. Das ist ein ernsthafter neuer Schritt in Richtung eines globalen militärischen Konflikts." Einmal mehr erweise sich Putin als Politiker mit dem "Ehrenkodex" eines Straßengangsters, der um sein Prestige fürchte, und wenn darüber die ganze Welt "zur Hölle" gehe.

Andere russische Beobachter empfahlen, Putins Worte ganz zu ignorieren und lieber auf seine Taten zu achten: "Er lügt nie, er informiert lediglich falsch. Womöglich weiß er selbst nicht, was ihm morgen blüht und deshalb spricht er eigentlich aufrichtig, macht dann aber das genaue Gegenteil." Auch russische Leser posteten Kommentare, wonach Putin schon alles Mögliche abgestritten habe, um es dann doch zu tun. Andere verwiesen auf die Inkonsequenz des Kremls: "Russland knöpft sich normalerweise nur Schwächere vor. Die Türkei zum Beispiel leistete sich einiges und wurde von uns mit einem Lieferverbot für Tomaten belegt. Das war alles."

"Was verliert der Westen?"

Früher hätten die Russen vermutet, Putin sei "nicht auf dem Laufenden", weil er kein Internet benutze, spottete ein weiterer Leser. Jetzt habe sich herausgestellt, dass der Präsident nicht mal fernsehe, denn dort werde ja täglich mit "Atomschlägen" gegen den Westen gedroht. Offenbar habe diese Propaganda Putin nicht erreicht.

Dass zumindest Teile der russischen Elite an einer "Deeskalation" interessiert sind, wurde in einem Kommentar der offiziösen Nachrichtenagentur RIA Nowosti deutlich. Dort war zu lesen [externer Link]: "Was verliert der vereinigte Westen, wenn der Ukraine-Konflikt wie durch ein Wunder innerhalb des derzeitigen Frontverlaufs beigelegt wird? Nichts. Er wird sogar wenig verlieren, wenn das Kiewer Regime alle vier umstrittenen [von Russland teilweise besetzten Donbass-]Regionen vollständig an Russland abtreten müsste. Und es wird nicht einmal Ansehensverluste verursachen, da man sich immer auf die Formel zurückziehen kann, die [der Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums] Klaus Schwab nannte: Ja, die Ukraine hat nicht gewonnen, aber Russland hat auch nicht gewonnen."

"Sollen Sie Angst vor mir haben"

In kremlfreundlichen Portalen hieß es, Putin könne bei den EU-Bürgern, die nicht an einer Eskalation des Ukrainekrieges interessiert seien, mit seinen Äußerungen sicher auf ein "erhebliches Maß an Verständnis" hoffen, was den vergleichsweise "versöhnlichen" Auftritt als Propaganda-Manöver entlarvte: "Die Antworten des Präsidenten auf Fragen von Chefredakteuren und Journalisten verschiedener Medien betonten nicht konfrontative, sondern eher konstruktive Akzente."

Übrigens endete Putins Pressekonferenz mit der Frage des Chefs der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS, ob es ihm eigentlich etwas ausmache, dass ihn westliche Karikaturisten ständig als "Bösewicht oder Monster" darstellten. Kremlsprecher Peskow zeige ihm solche Bilder zur "Stimmungsaufhellung" tatsächlich, so Putins ironische Antwort. Er habe aber keine Zeit, sich näher damit zu befassen: "Stimmt, so ist es. Sollen sie Angst vor mir haben."

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