Bei einem seiner zahlreichen Prozesstermine im vergangenen Jahr fielen Donald Trump bekanntlich immer wieder mal die Augen zu: Justiz ist manchmal halt eine öde Angelegenheit, sogar für Angeklagte, aber dagegen lässt sich ja was unternehmen. Die Gerichtsreporterin Maurine Dallas Watkins jedenfalls war verblüfft, dass zwei Mörderinnen 1924 in Chicago mit Freispruch davonkamen, weil sie erstens jung, zweitens gutaussehend und drittens unterhaltsam waren. Sie machten aus ihren Prozessen mithilfe der Medien eine Show, und die wissen amerikanische Geschworene immer zu schätzen.
Auf Langweile steht Todesstrafe
Ist zwar irgendwie total unmoralisch, reicht jedoch allemal für ein Erfolgsmusical: "Chicago" mit der Musik von John Kander und den Songtexten von Fred Ebb sorgt seit der Uraufführung 1975 für Begeisterung, wegen der jazzigen Musik, aber eben auch wegen der beißenden Justiz-Satire. Steppende Mörderinnen im Glitzerfummel, die für ihre geheuchelte Reue frenetisch gefeiert werden, das ist ungewöhnlich und in der zerstreuungssüchtigen Ära Trump leider aktueller denn je. Nur auf eines steht in Amerika demnach wirklich die Todesstrafe: auf Langeweile.
Welt als "Vaudeville und Vorstellung"
Regisseur Stefan Tilch zeigt den Mordprozess der so gerissenen wie skrupellosen Roxie Hart, die ihren Liebhaber auf dem Gewissen hat, folgerichtig als groteske Zaubershow unter dem Sternenbanner. Der Staranwalt lässt als Magier Gegenstände und Menschen verschwinden und wieder auftauchen, etwas Feuerwerk muss auch sein. Aufmerksamkeit ist die härteste Währung im Leben wie im Gerichtssaal! Kaum ist Roxie unter dubiosen Umständen freigesprochen, werfen sich die Medien auf die nächste Bluttat, auf dass die Show ewig so weitergeht.
Die Ausstatter Charles Cusick Smith und Philip Ronald Daniels brauchten in Landshut nicht viele Requisiten, außer einer kleinen Showtreppe und reichlich Gitterstäben, schließlich sollte das Ensemble viel Platz zum Tanzen haben, und der wurde mit der Choreografie von Sunny Prasch auch weidlich genutzt. Stefan Tilch ließ sich vom Vaudeville-Theater inspirieren, diesen kleinen Unterhaltungsbühnen, wo grelle Witze gerissen werden und das Publikum zwischendurch mit schaler Erotik bei Laune gehalten wird. Um einen berühmten Buchtitel des Philosophen Arthur Schopenhauer abzuwandeln: Die Welt als "Vaudeville und Vorstellung", soweit scheint es in der Tat gekommen.
Hauptsache, der Rhythmus stimmt!
Eine viel beklatschte, kurzweilige, amüsante Musicalproduktion, die eigentlich das Prädikat "schnörkellos" verdienen würde, wenn das im Showgeschäft nicht etwas abschätzig klingen würde, weil "Schnörkel", also allerlei äußerer Schnickschnack, ja eigentlich zwingend dazugehört. Doch hier nimmt sich die Branche selbst aufs Korn, hinterfragt ihre Mechanismen, ihre Abgründe, ihren gelegentlichen Zynismus. "Chicago" geht fest davon aus, dass wir alle wild entschlossen sind, uns zu Tode zu amüsieren. Hauptsache, der Rhythmus stimmt!
Dirigent Basil H.E. Coleman sorgte mit der Band für eine frivol-schräge Atmosphäre, die trotz der Jazz-Hymnen weniger an die Charleston-Nostalgie der 1920er Jahre erinnerte als an die Ära der wild bewegten Siebziger, in der die durch und durch sarkastische Musik ja komponiert wurde. Damals leistete sich Amerika noch Selbstironie und sogar (marktgängige) Gesellschaftskritik.
Unter den Mitwirkenden brillierten vor allem die holländische Musicalsängerin Marije Louise Maliepaard als Roxie Hart und ihre aus Frankfurt stammende Kollegin Nadine Germann als prominente Gefängnisgefährtin Velma Kelly. Zwei Mörderinnen, die ausschließlich an ihre PR und ihre künstlichen Tränen denken. Stefan Merten hätte den geldgierigen Staranwalt Billy Flynn durchaus noch etwas aasiger und kaltschnäuziger spielen können, so leutselig war er fast schon ein Sympathieträger.
Jochen Decker als Amos Hart gab einen bemerkenswert anrührenden Sidekick: Als Ehemann der Angeklagten steht er im Schatten der Aufmerksamkeit, also da, wo es kälter ist als am Nordpol. Soweit ist es gekommen: Die Justiz gedeiht ausschließlich im Blitzlichtgewitter – bleibt es aus, verdorrt die Gerechtigkeit in der Dürre der Materie.
Wieder am 7., 8. und 9. März in Passau, am 15. und 16. März in Landshut und am 1. und 2. April in Straubing, weitere Termine.
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