Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag
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"Für mich wird absolute Priorität haben, so schnell wie möglich Europa so zu stärken, dass wir Schritt für Unabhängigkeit erreichen von den USA."

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Weltpolitik: "Deutschland kann viel mehr schaffen, als es denkt"

Weltpolitik: "Deutschland kann viel mehr schaffen, als es denkt"

Der Berg an Herausforderungen für Friedrich Merz ist riesig – allem voran: seine angekündigte Unabhängigkeit von den USA. Kann Merz das überhaupt schaffen? Eine US-Sicherheits- und Verteidigungsexpertin über Europas Rolle in der Weltpolitik.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Es war ein Satz am Wahlabend von Friedrich Merz (CDU), der die gesamte transatlantische Agenda auf den Kopf stellen würde: "Für mich wird absolute Priorität haben, so schnell wie möglich Europa so zu stärken, dass wir Schritt für Unabhängigkeit erreichen von den USA." Bei seiner Pressekonferenz einen Tag später schob Merz auf Nachfrage hinterher: "Sie müssen auch mit dem worst case umgehen."

Kann Merz als Bundeskanzler Deutschland zur Führungsnation in Europa machen – und so Putin, Xi und Trump trotzen? BR24 hat für "Possoch klärt" mit Rachel Tausendfreund von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gesprochen. Tausendfreund forscht und schreibt über die Sicherheits-, Innen- und Außenpolitik der USA, die deutsche Außenpolitik sowie die transatlantischen Beziehungen.

BR24: Kann Merz als Kanzler den Herausforderungen durch Putin, Xi und Trump gewachsen sein?

Rachel Tausendfreund: Merz ist ja nicht allein. Er hat auch die anderen Staatsoberhäupter Europas an seiner Seite. Diese wird er brauchen, wenn er sich gegenüber Trump, Xi oder Putin behaupten will. Merz denkt europäisch, und darauf setze ich auch meine Hoffnung.

"Europa muss in der Lage sein, allein zu entscheiden"

BR24: Was ist die größte Baustelle für Merz?

Tausendfreund: International ist das der Krieg in der Ukraine, weil es am dringendsten ist. Trump drängt stark auf ein Abkommen mit Putin. Wenn es nach Trump geht, werden relativ bald Entscheidungen getroffen. Ein Waffenstillstand hätte enorme Konsequenzen für die europäische Sicherheit. Die Antworten müssen in Wochen, höchstens Monaten kommen. Im Hintergrund lauern zudem Auseinandersetzungen mit der US-amerikanischen Regierung bezüglich ihrer China-Politik und mögliche Handelskriege.

BR24: Merz will Europa unabhängiger von den USA machen. Meint er das ernst?

Tausendfreund: Das ist eine große Umkehr, besonders aus den Reihen der CDU, die normalerweise pro-amerikanisch ist. Der Auftritt von J. D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz war ein Schock. Er hat die Fundamente der transatlantischen Beziehungen und Regeln der Diplomatie in Frage gestellt. Der Umkehrschluss ist: Europa muss in der Lage sein, allein zu entscheiden, zu handeln und sich zu verteidigen.

Im Video: Merz als Kanzler – Kann Deutschland gegen Putin, Xi und Trump bestehen? Possoch klärt!

Sofortige Unabhängigkeit von den USA "nicht zu erreichen"

BR24: Wie kann Merz diese Unabhängigkeit realistisch erreichen?

Tausendfreund: Das ist in zwei Jahren nicht zu erreichen. Aber man kann einen realistischen Plan mit europäischen Partnern entwickeln. Wenn man die lang bestehenden Streitigkeiten innerhalb der EU beiseite schafft und gemeinsam große Fähigkeiten in den nächsten fünf bis acht Jahren entwickelt, erreicht man zwar keine sofortige Unabhängigkeit, aber eine starke Position.

BR24: Welche Konsequenzen ergeben sich für die Sicherheitsarchitektur Europas?

Tausendfreund: Es gibt mehrere Möglichkeiten. Eine wäre, dass man völlig unabhängig wird und die Sicherheit getrennt von den USA denkt. Das würde langfristig das Ende der Nato bedeuten und stattdessen einen europäischen Sicherheitsbund mit Großbritannien etablieren. Das ist aber weniger realistisch.

Der erste Schritt wäre eine Unabhängigkeit im Sinne von: Europa kann sich weitestgehend selbst schützen, mit nur bestimmten amerikanischen Fähigkeiten im Hintergrund, etwa dem nuklearen Schutzschirm oder strategischen Kapazitäten wie großen Transportflugzeugen und Aufklärungssatelliten. Das Ziel wäre, dass 80 Prozent der Sicherheit Europas von europäischen Kapazitäten gestellt werden. Momentan kann Europa sich kaum selbst schützen und stellt vielleicht 30 bis 40 Prozent der nötigen Kapazitäten.

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Rachel Tausendfreund ist seit September 2024 Senior Research Fellow mit dem Schwerpunkt Transatlantische Beziehungen/USA bei der DGAP.

Führung kommt von Zusammenführen

BR24: Ist Deutschland bereit, eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen?

Tausendfreund: Deutschland muss Führung im Sinne von Zusammenführen verstehen – also mit kleineren Staaten zusammenarbeiten, um Bewegung zu erzielen. Es braucht deutsche Führung im Sinne von Vorantreiben und Energieinvestition, auch finanziell. Problematisch wäre es, wenn Deutschland sich allein aufrüsten würde, ohne gleichzeitig europäische Strukturen dafür zu bauen. Man muss das europäisch denken.

BR24: Kann Deutschland diese Herausforderungen überhaupt bewältigen?

Tausendfreund: Deutschland kann viel mehr schaffen, als es denkt. Es ist ein großes, reiches Industrieland mit viel Produktionskapazität und einer bedeutenden Waffenindustrie. Deutschland hat gute Karten, wenn es sich entscheidet, sich zu wappnen und mit den Europäern zusammenzuarbeiten. Der politische Wille hat bisher gefehlt, weil die Dringlichkeit fehlte. Merz ist insofern der richtige Kanzler, weil für diese Vorhaben Geld bereitgestellt werden muss, und das kann die CDU besser durchsetzen. Man muss der Bevölkerung die Notwendigkeit gut und permanent erklären – nicht nur einmal wie bei der Zeitenwende-Rede.

BR24: Danke für das Gespräch.

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