Die Band "Die Braut haut ins Auge" in einem Mini-Van sitzend
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In der Provinz Außenseiter, in Hamburg Verbündete: Die Hamburger-Schule-Band "Die Braut haut ins Auge" in den 90ern

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Politik und Provinz: Die Geschichte der Hamburger Schule

Secondhand-Mode und Haltung: Die Hamburger Schule prägte den Look, den Sound und das Selbstverständnis vieler in den Neunzigern. Das Buch "Der Text ist meine Party" erzählt jetzt die Geschichte der Szene – und lässt viele Beteiligte zu Wort kommen.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

"Forum Enger" hieß ein ganz früher Ort der Hamburger Schule – hier, in einem Kellerclub der ostwestfälischen Kleinstadt Enger, trafen sich frühe Protagonisten wie Frank Spilker, Bernadette La Hengst oder Bernd Begemann. Das ist ein bisschen ironisch, denn Enge, das war ein ganz starker Motor für viele in der späteren Szene, ein Motor selbst etwas zu machen, Musik, Fanzines, ein Plattenlabel – und irgendwann nach Hamburg zu ziehen. Denn sehr viele der Musiker und Musikerinnen, der Labelmacher oder Musikjournalistinnen, die die Hamburger Schule ausmachten, kamen aus der Provinz.

Diese Enge sei vor allem durch eine starke soziale Kontrolle spürbar gewesen, erzählt Bernadette La Hengst, Sängerin von "Die Braut haut ins Auge", im Interview mit dem BR: "Ich bin ja ein Kleinstadtmädchen und die Nachbarn, die ganzen Geschäftsleute und auch die Kurgäste, die beobachteten einen, vor allem als junges Hippie-Punk-Mädchen". Auch sonst seien die 80er-Jahre keine gute Zeit gewesen – zumindest nicht in ihrem Heimatort Bad Salzuflen: "Da gab es unheimlich viele Junge-Union-Wähler und Golf-GTI-Fahrer und Popper, die sich mit Lacoste eingekleidet haben und an der Welt, an Politik und an sonstigen Dingen nicht so interessiert waren und natürlich auch nicht an abhängen, wie wir uns das vorgestellt haben. Und dieser Welt musste ich irgendwie entfliehen".

Vom Land in die Stadt

Über Berlin ging’s für die Musikerin nach Hamburg – wo in den frühen Neunzigern viele zusammenfanden, die nichts mit der Jungen Union oder einem Golf-GTI anfangen konnten. Sehr viele davon kommen in "Der Text ist meine Party" von Jonas Engelmann selbst zu Wort. Musiker und Musikerinnen wie Frank Spilker von den "Sternen", Dirk von Lowtzow und Jan Müller von "Tocotronic", Bernadette La Hengst von "Die Braut haut ins Auge", Jochen Distelmeyer von "Blumfeld", Knarf Rellöm von "Huah!", Schorsch Kamerun und Ted Gaier von den "Goldenen Zitronen", um nur einige zu nennen. Dazu Labelmacher wie Carol von Rautenkranz oder Charlotte Goltermann und Musikjournalisten wie Sandra Grether.

Hamburg beschreiben manche davon als besonders offen – und im Unterschied zum damaligen Berlin als weniger düster und kaputt. Für Frank Spilker war aber auch eine Platte zentral: "Heile Heile Boches“ von der Band "Kolossale Jugend", deren Sänger Kristof Schreuf 2022 überraschend gestorben ist – und von dessen Liedzeile im Song "Party" sich das Buch den Titel "Der Text ist meine Party" geborgt hat. Das sei ein „erfolgreiches deutschsprachiges Album nach sehr langer Zeit der Stille oder der relativen Einöde“ gewesen, so Frank Spilker. "Und darüber hat sich dann vermittelt, dass es da eine lebendige Szene gibt, die so etwas wieder macht."

Deutsche Texte nach NDW und Politpunk

So etwas – das war Musik mit deutschsprachigen Texten, die sich sowohl von der Hitparadenwelt der Neuen Deutschen Welle abgrenzte, als auch von den politischen Slogans des Deutschpunks, die zu leeren Worthülsen verkommenen waren. "Ich wollte tatsächlich etwas ausdrücken mit meinen Texten, insofern ist es naheliegend, dass man das dann in Deutsch versucht", erzählt Bernadette La Hengst. "Mir wäre nie der Gedanke gekommen, auf Englisch zu singen, das erschien mir zu prätentiös.2

Ähnlich begründet auch Frank Spilker die Entscheidung, in der Muttersprache zu singen. Für ihn war es selbstverständlich, auf der Bühne "mit den Leuten, die vor mir stehen, auch auf Deutsch zu reden. Denn das macht man ja im Alltag auch." Der gedankliche Schritt sei gewesen, "nicht zu imaginieren, dass man international auf einer Bühne vor großem Publikum steht. Sondern da, wo man ist, was zu machen mit den Leuten, die man vor sich stehen hat." Das habe vielleicht auch etwas Proletarisches gehabt, in dem Sinne, "dass man sagen kann, es können ja nicht alle Englisch und sie sollen trotzdem Musik machen können."

Musik mit Haltung

Nicht nur die Texte, auch die musikalische Sprache der Hamburger Schule sind eine Rückeroberung gewesen – eine Rückeroberung vom deutschen Schlager, den die Nazis einst gleichgeschaltet hatten. Damit drückten viele der Bands auch eine dezidiert linke politische Haltung aus. Sie sangen und spielten an gegen Konservatismus, Kleingeistigkeit – und gegen den nach der Wiedervereinigung wieder grassierenden Rassismus und Nationalismus.

Beides gibt es auch heute noch und die Sprache von damals greift nach wie vor. "Was wir in den Neunzigern gemacht haben, ist quasi die Feldforschung gewesen für alles, was kommt", so Frank Spilker. "Die Argumente gegen Rassismus, gegen Regionalismus – das zu durchdenken und an den richtigen Stellen Kritik zu üben, das haben viele Bands, die in den 90er-Jahren geschockt waren von den Übergriffen in Mölln und vom neuen Nationalismus, ja schon gelegt."

Frauen auf der Bühne die Ausnahme

So "politisch und sexuell anders denkend", um es mit einer Blumfeld-Zeile auszudrücken, die Bands auch waren: Vor einem gewissen Sexismus waren sie dennoch nicht gefeit. Auch das kommt in "Der Text ist meine Party" zur Sprache. Nicht nur Bernadette La Hengst, Sängerin der einzigen rein weiblichen Band der damaligen Szene, erzählt, wie Frauen subtil an den Rand gedrängt wurden. In der vor wenigen Wochen erschienenen ARD-Doku "Die Hamburger Schule" sagt sie sogar, dass es bei jedem zweiten Konzert ihrer Band "Die Braut haut ins Auge" "Ausziehen! Ausziehen!"-Rufe gegeben habe. "Ich glaube, die waren alle so perplex, dass wir als selbstbewusste Frauen so auf der Bühne standen", erzählt La Hengst, "dass sie mit sowas wie auch leicht ironisch gemeinten 'Ausziehen!'-Rufen ihre Perplexität zum Ausdruck gebracht haben – neben all dem Sexismus, der tatsächlich den Wunsch hatte, dass wir da nackt stehen."

Sie und ihre Bandkolleginnen haben zusammen mit weiteren Musikerinnen die sexistische Forderung dann einmal einfach erfüllt: "Es gab auch einen schönen Auftritt, wo wir auf diese 'Ausziehen!'-Rufe eine musikalische Gegenantwort gebildet haben, indem wir nämlich nackt aufgetreten sind, mit Ganzkörperbemalung. Und Carol von Rautenkranz von L’Age D‘Or [wichtiges Musiklabel, Anm. d. Red.] hat gesagt: Ihr habt zehn Minuten, wenn ihr danach nicht aufhört, holen wir euch von der Bühne."

Ende, Anfänge und Erbe

Was bleibt heute von der Hamburger Schule? Die Musiker und Musikerinnen gehen nach wie vor auf Tour und bringen neue Alben heraus, teils mit den gleichen Bands, oft solo oder in neuen Zusammenschlüssen. Dabei spielen die Überlegungen und die Herangehensweisen von damals nach wie vor eine Rolle. Auch eine Haltung, "dass man eben nicht den Erfolg über alles stellt", wie Jan Müller von Tocotronic im Buch resümiert.

Bernadette La Hengst erzählt in "Der Text ist meine Party" von einem neuen Leben, dass sich mit dem langsamen Auslaufen der Hamburger Schule Ende der 90er Jahre eröffnet habe – ausgehend von den gemachten Erfahrungen: "Da war dann die reine Musikszene nicht mehr so wichtig, hat sich verbündet und vernetzt mit anderen Szenen, mit Aktivist*innen, mit dem Feminismus, auch als solidarische Vernetzung. Da war der Begriff ‚Hamburger Schule‘ dann zu klein."

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Buchcover: "Der Test ist meine Party" von Jonas Engelmann

"Der Text ist meine Party. Eine Geschichte der Hamburger Schule" von Jonas Engelmann ist am 07. Juni im Ventil Verlag erschienen, 248 Seiten, 25 Euro.

Zum Buch erscheint bei Tapete Records auch die Compilation „Der Text ist meine Party – Die Hamburger Schule 1989–2000“ als CD und Doppel-LP, die Songs von vielen der Musiker und Musikerinnen, die auch im Buch zu Wort kommen, versammelt.

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