"Souveränität" ist ein Schlagwort, das Putin besonders gern im Munde führt. Ihm zufolge kämpft Russland um das Recht auf Selbstbestimmung und für eine neue Weltordnung. Jetzt würzte er diese Propaganda mit einer Anekdote aus Hannover. "Es war eine Schande", so Wladimir Putin bei einem "Investitionsforum" in Moskau über seine Erlebnisse auf einer Geburtstagsparty von Gerhard Schröder.
Zwar sei das Fest "bescheiden, aber würdevoll" gewesen, doch alle hätten sich auf Englisch unterhalten. Sogar der anwesende Frauenchor habe Englisch gesungen: "Das ist der Punkt. Souveränität muss im Inneren beginnen." Der rechtsextreme "Philosoph" Alexander Dugin jubelte prompt: "Das Wichtigste ist das Maß an Souveränität: Das ist es!"
"Warum habe ich mich daran erinnert?"
Nebenbei berichtete Putin über eine Begegnung mit einem Angler an der Spree in Berlin. Der habe auf die Frage, ob die Fische anbissen, mürrisch geantwortet, der Wind wehe gerade aus dem Osten, wo der "ganze Dreck" herkomme: "Warum habe ich mich jetzt daran erinnert? Jetzt ist im Osten alles besser als im Westen."
Das bezog Putin ausdrücklich auf das "Geschäftsklima" und ergänzte: "Ich hoffe, dass es eines Tages zu einer Normalisierung der Beziehungen zu unseren westlichen Partnern kommt, und zwar deshalb, weil sie selbst daran interessiert sind, aber natürlich auch wir." Dieser Prozess sei, wie er hoffe, "unausweichlich".
Die kriegsbegeisterten russischen Ultrapatrioten könnten durch eine "Normalisierung" demnächst aussterben wie die Mammuts, spottete einer der populärsten Blogger.
"Aktive Minderheiten machen Revolutionen"
Es fehlte allerdings nicht an polemischen Reaktionen: "Der Präsident machte heute viele prahlerische Aussagen zur finanziellen und wirtschaftlichen Lage des Landes. Was steckt dahinter? Ein beängstigender Mangel an Kontrolle über die Lage oder ein Versuch, die Öffentlichkeit zu beruhigen und gleichzeitig den Feinden Sand in die Augen zu streuen?"
Weil das russische Wirtschaftsblatt "Kommersant" kürzlich darüber berichtet hatte, dass der Kreml seine Spitzenfunktionäre intern bereits auf die Nachkriegszeit vorbereite und überlege, was als "Sieg" zu verkaufen sei, fügte der Blogger an: "Was wird der Kreml dann mit der leidenschaftlichen Minderheit machen, die er selbst unter dem Z-Symbol groß gemacht hat? Wie werden Hunderttausende Veteranen von der Front über den 'Sieg' denken? Es sei daran erinnert, dass Revolutionen und Staatsstreiche von einer aktiven Minderheit und nicht von der passiven Mehrheit durchgeführt werden."
Waffenstillstand "keine Wende zum Besseren"?
Tatsächlich war im "Kommersant" zu lesen gewesen, dass der Kreml nach Kriegsende den Unmut der Veteranen fürchte: "Eines der Risiken besteht darin, dass es für ehemalige Kämpfer im zivilen Leben schwierig sein wird, genauso viel zu verdienen wie an der Front. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie wir sie motivieren und zu einer respektvollen Haltung gegenüber der Gesellschaft ermuntern können."
Immerhin verdienen russische Frontkämpfer umgerechnet rund 2.000 Euro monatlich und damit rund doppelt so viel wie ein Fabrikarbeiter. Obendrein zahlen die Behörden Kriegsfreiwilligen bis zu 30.000 Euro Antrittsprämie, was Ehefrauen angeblich dazu motiviert, ihren Männern beim Ausfüllen der Formulare zu helfen.
Politologe Ilja Graschtschenkow teilt die Besorgnis, dass Veteranen nach Kriegsende mit einem drastischen Rückgang ihres Einkommens konfrontiert sein werden: "Außerdem droht Unzufriedenheit von dem Teil der Gesellschaft, der sich mit keinem der Sieges-Szenarien zufrieden geben wird, da für diese Menschen die ständigen Feindseligkeiten zur Normalität geworden sind." Im Übrigen sehe sich der Kreml nach Kriegsende jeder Menge sozialer Probleme und "sehr schwierigen Zeiten" gegenüber.
"Lage nur auf den ersten Blick festgefahren"
Politologe Juri Barantschik fragte sich bereits, wie Russland reagieren werde, wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unvermittelt einen einseitigen Waffenstillstand ausrufe. Der Kreml dürfe dann keinesfalls verdattert reagieren: "Ich denke, dass die Wahrscheinlichkeit und Gefahr eines solchen außergewöhnlichen Schritts nicht unterschätzt werden darf."
Experte Dmitri Michailitschenko glaubt, dass der Kreml an einer "Abkühlung" interessiert ist und derzeit mit vagen Äußerungen die gesellschaftlichen Reaktionen testet. Andere unterstellen Putin, er wolle sich auf seinen großen mehrstündigen TV-Auftritt vorbereiten, wo ihn Bürger direkt zu ihren Anliegen befragen können.
Kolumnist Dmitri Drise: "Die Lage scheint festgefahren, allerdings nur auf den ersten Blick. Es fällt auf, dass die Verhandlungsbemühungen weitergehen, es also unsinnig ist, den Friedensprozess aufzugeben."
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