Nach einer "Charmeoffensive" sieht das noch nicht aus, aber offenbar ist es als "Beruhigungspille" für die eigene Bevölkerung gemeint. Beim Besuch einer Flugschule in Torschok nordwestlich von Moskau schloss Wladimir Putin eine direkte Konfrontation mit der NATO als "völligen Unsinn" aus. Seine Begründung: Das Militärbudget der USA sei in absoluten Zahlen etwa zehn Mal höher als das russische.
Während Putin die Höhe des amerikanischen Verteidigungshaushalts in etwa korrekt bezifferte (aktuell etwa 842 Milliarden US-Dollar jährlich), sind seine Angaben über die russischen Ausgaben (im ersten Kriegsjahr angeblich umgerechnet 72 Milliarden US-Dollar) höchst zweifelhaft. Gleichwohl stellte der Präsident die rhetorische Frage: "Werden wir angesichts dieses Verhältnisses mit der NATO kämpfen?"
"Dann werden wir uns ruinieren"
Russland habe "keine aggressiven Absichten" gegen den Westen, behauptete Putin und wiederholte unverdrossen seine oft vorgetragene Klage, wonach die NATO sich "unter verschiedenen Vorwänden" in alle Richtungen ausweite, von Lateinamerika bis nach Asien: "Weil viele Länder Angst haben vor einem großen, starken Russland, obwohl das völlig unangebracht ist."
Der Westen wolle nur seine eigene Bevölkerung einschüchtern, wenn von möglichen russischen Angriffen auf Polen oder die baltischen Länder die Rede sei: "Bewegten wir uns auf die Grenzen der Länder zu, die Teil des NATO-Blocks waren? Wir sind auf niemanden losmarschiert. Sie bewegten sich auf uns zu. Haben wir den Atlantischen Ozean bis zur Grenze der Vereinigten Staaten überquert? Nein, sie nähern sich uns und sind uns nahe gekommen."
Obendrein zeigte sich Putin schwer genervt von den russischen Rechtsextremen, die nach dem Terroranschlag von Moskau die Migrations-Debatte aufs Neue befeuert hatten: "Wissen Sie, wenn ich unserem Volk zuhöre – solche Leute gibt es überall, in jeder Gesellschaft – den chauvinistischen Patrioten, einschließlich derer, die sagen, Russland sei nur für Russen da, dann überkommt mich ein Gefühl der Angst." Angesichts von 190 ethnischen Gruppen im Land sei es "destruktiv", alle Nichtrussen als "Fremde" zu brandmarken: "Dann werden wir uns ruinieren."
"Schröder und Putin haben das unter Beweis gestellt"
Kremlsprecher Dmitri Peskow ergänzte die jüngsten propagandistischen Äußerungen seines Chefs mit dem Hinweis, "gute konstruktive Beziehungen auf persönlicher Ebene" könnten stets zur Lösung zwischenstaatlicher Probleme beitragen: "Sowohl Altkanzler Schröder als auch der russische Präsident Putin haben das immer wieder unter Beweis gestellt. Zu der Zeit, als Schröder an der Spitze seines Landes stand, hat das dazu beigetragen, die schwierigsten Probleme zu lösen und die Zukunft sicherzustellen. Leider sehen wir derzeit keinen solchen politischen Willen bei den derzeitigen Politikern und hören solche Worte nicht von ihnen."
"Dann ist das Redefreiheit"
Mit Blick auf die aggressiven Töne russischer TV-Propagandisten spottete einer der Polit-Blogger ironisch: "Nun, in diesem Fall liegt alles ganz einfach. Wenn ein [Fernseh-Moderator Wladimir] Solowjew dazu aufruft, die baltischen Länder zu 'entnazifizieren', oder [Ex-Präsident Dmitri] Medwedew dazu verlangt, Georgien zu erobern, und sich dann Putin zu Wort meldet und sagt, das sei alles 'Unsinn' und Russland werde niemanden angreifen – dann ist das Redefreiheit. Aber wenn [Kremlsprecher] Peskow sagt, ganz Russland unterstütze Putin in seinem Krieg, und dann protestieren einige Russen dagegen und bekommen dafür eine Geld- oder Gefängnisstrafe, dann ist das 'Diskreditierung' und 'Fake News'. Das ist eine ganz andere Sache, das müssen Sie verstehen!"
Der Sarkasmus bezieht sich darauf, dass der notorische Scharfmacher Medwedew, immerhin stellvertretender Vorsitzender im russischen Sicherheitsrat, kürzlich eine "russische Friedensformel" formuliert hat, wonach die Ukraine "bedingungslos" kapitulieren müsse. Obendrein müssten die Vereinten Nationen die Ukraine als "Rechtspersönlichkeit" eliminieren: "Das ist eine Kompromissformel, oder? Ich denke, dass wir gerade auf dieser Grundlage einen wohlwollenden Konsens mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der angelsächsischen Welt, anstreben und produktive Gipfeltreffen abhalten können..."
"Multiplizieren Sie mit minus eins"
Im eigenen Land wird Putins Glaubwürdigkeit offenbar sehr kritisch eingeschätzt: "War dieser absolut ehrliche Mann, unser Präsident, jemals unehrlich uns gegenüber? Das war nicht der Fall, also glauben wir ihm unverzüglich!" schrieb ein russischer Leser augenzwinkernd nach den Beruhigungsversuchen an die Adresse der NATO. Andere forderten dazu auf, alle Äußerungen des Präsidenten mit "minus eins" zu multiplizieren, also alle Behauptungen ins Gegenteil zu verkehren: "Dann können Sie ihm weiter zuhören." Belege dafür wurden nachgereicht: "Er sprach auch mal davon, dass das Rentenalter nicht angehoben werde und dass es nicht notwendig sei, Reserven zu mobilisieren."
Was Putins Ängste vor Ausländerfeindlichkeit angeht, verwiesen Kritiker darauf, dass korrupte Beamte einen schwunghaften Handel mit Visa und Wohnraum für illegale Einwanderer betrieben: "Millionen ehrlicher Russen wissen genau, wer das Land wirklich ruiniert." Von "Krokodilstränen" war die Rede. "Nationalismus ist sicherlich destruktiv, aber in einem wohlhabenden Staat fällt er nicht weiter ins Gewicht. Wenn es im Land jedoch Jahr für Jahr zu Rückschritten kommt, dann wird alles ins Wanken geraten, und noch so viel Repression hilft nichts", bilanzierte ein Leser.
"Gefährliche und bösartige Praxis"
Im ultrapatriotischen Lager sorgte Putin für viel Irritation, zumal Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, kürzlich noch behauptet hatte, in Russland gebe es gar keinen "Nationalismus". Die einen fragten sich, ob Putins Bemerkung "manipuliert" worden sei, andere mühten sich mit gewagten Interpretationen. So schrieb der rechtsextreme Politiker Igor Skurlatow: "Es wird ein gewisser 'Multinationalismus' gefördert, der die Russen demütigt, aber nationale Minderheiten verherrlicht, was eine gefährliche und zutiefst bösartige Praxis ist." Russland werde in zehn Jahren "verschwinden", wenn es so weiter gehe. Korrupten Beamten wurde vorgeworfen, Russlands "Ausverkauf" zu betreiben, indem sie an der Migration verdienten.
"Beendigung der Krise mit Schaffung einer neuen"
Für den Exil-Politologen Anatoli Nesmijan steht fest, dass sich Putin in eine politisch schwierige Lage manövriert hat: "Der Kreml befindet sich in einer Situation (teils von außen herbeigeführt, teils durch seine eigenen Versäumnisse und Irrtümer geschaffen), in der es keine rationalen Auswege mehr gibt. Daher ist die Beendigung einer Krise nur durch die Schaffung einer neuen möglich. Oder sogar mehrere. Das macht die Situation äußerst unsicher." Russland müsse sich auf wirtschaftliche Probleme einstellen und könne nicht damit rechnen, den Ukraine-Krieg kurzfristig mit einer "Offensive" zu gewinnen.
Es bleibe Putin die Möglichkeit, einen "Parallelkonflikt" vom Zaun zu brechen und über diesen zu versuchen, mit dem Westen ins "Geschäft" zu kommen: "Ob es sich dabei um einen Durchbruchsversuch durch die Suwałki-Lücke [zwischen Polen und Litauen] handelt, einen Angriff auf die baltischen Staaten oder eine andere Militäraktion, ist schwer vorherzusagen. Aber die Bedeutung bleibt dieselbe – die NATO in eine Krise zu stürzen, die Trump lösen wird, wenn er durch die erwähnte Strategie gewählt wird." Angesichts der "schwachen Managementfähigkeiten" des Kremls sei es allerdings "reines Glücksspiel", auf diese Weise, also mit einer Eskalation, das Patt in der Ukraine zu überwinden.
"Prognosen alles andere als optimistisch"
Der Kolumnist der liberalen russischen Wirtschaftszeitung Dmitri Drise schreibt zum aktuellen Spannungsverhältnis zwischen Russland und der NATO: "Bemerkenswert ist, dass niemand mehr an einen großen Friedensvertrag wie das Istanbuler Abkommen denkt. Das alles scheint inzwischen etwas aus dem Reich der Fantasie zu sein. Verschiedene Experten vergleichen die Chancen und nennen Argumente dafür und dagegen. Aber was auch immer man sagen mag, das Szenario erweist sich als düster. Die Prognosen sind alles andere als optimistisch." China, die Türkei und der Vatikan - alle hätten "jeglichen Enthusiasmus" verloren: "Es scheint, dass sie selbst nicht mehr daran glauben, dass sich etwas ändern lässt."
Weniger pessimistisch, aber immer noch skeptisch die Einschätzung eines weiteren russischen Bloggers: "Der [Moskauer] Terroranschlag könnte ein passender Anlass für die Wiederaufnahme eines nichtöffentlichen Dialogs zwischen Russland und dem Westen sein, in dem die Parteien 'ohne Gesichtsverlust' versuchen könnten, einen Ausweg aus der Sackgasse im Ukraine-Konflikt zu finden." Hinderlich sei allerdings ein "Unterschied in der Wahrnehmung": Während der Westen frühzeitige Hinweise auf Terrorakte in Russland als "Geste des guten Willens" verstehe, habe Putin über "regelrechte Erpressung" und einen "Destabilisierungsversuch" geschimpft.
"Streit um die Wahrheit"
Blogger Dmitri Sewrjukow verwies darauf, dass Russland nach dem Terroranschlag, der als "Dolchstoß" bezeichnet wurde, "zum ersten Mal seit zwei Jahren in den Augen seiner Feinde nicht mehr wie ein Aggressor wirkte, sondern wie ein Opfer". Leider sei die Gelegenheit zur Verständigung verpasst worden, der Westen habe sich hinter "förmlicher Höflichkeit" verschanzt. Jetzt gehe es um die Deutungshoheit des Anschlags auf internationaler Bühne: "Der Streit um die Wahrheit wird ebenso hart sein wie die Kämpfe an der ukrainischen Front, und die weitere Entwicklung der Ereignisse wird weitgehend von seinem Ausgang abhängen."
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