Rund sieben Monate war die russische Kleinstadt Sudscha im Gouvernement Kursk von ukrainischen Truppen besetzt. Kürzlich konnten sie russische Truppen zurückerobern, was dem Kreml ungemein wichtig war: Putin reiste persönlich in Kampfmontur an die Front, um seinen Soldaten für den Erfolg zu danken. Auch der russische Rapper Akim Apachev (eigentlich Gasanow) ließ es sich in einer patriotischen Aufwallung nicht nehmen, die Ruinen von Sudscha zu besuchen. Dort bemalte er einige Wände mit wüsten Beschimpfungen gegen die Ukraine und ließ sich dabei von einem TV-Reporter filmen.
"Russischer Künstler muss an die Front"
"Die Graffiti an der Front, all diese Wandmalereien, haben heute mehr Bedeutung als alle Gemälde von Malewitsch und Kandinsky", tönte Apachev in einem Interview (externer Link). Seine "Kunstaktion" garnierte er mit einem Gedicht ("Im Morgengrauen wird die Siegestrompete ertönen", externer Link), in dem er sich auf den Revolutionsdichter Wladimir Majakowski (1893 - 1930) berief.
Obendrein zitierte er Dascha Dugina, die bei einem Attentat getötete Tochter des rechtsextremistischen Kreml-Vordenkers und "Philosophen" Alexander Dugin: "Zeitgenössische Kunst muss heutzutage das Kriegsgeschehen abbilden. Sie muss sich ganz dem Hier und Jetzt widmen. Ein echter russischer Künstler muss an der Front tätig sein und unsere schöne Grenze mit Sinnstiftung und Bildern versorgen."
Doch die Reaktionen auf Apachevs groteske "Kunstaktion" fielen völlig anders aus, als er wohl erwartet hatte, was in Russland für viel Wirbel und einiges Rätselraten sorgt. Apachev musste sich entschuldigen, ein vaterländischer Boxer forderte ihn gar zum Duell. Alexander Khinshtein, der Gouverneur von Kursk und besondere Vertraute von Putin, nannte das Verhalten des Rappers auf seinem Telegram-Kanal (255.000 Fans, externer Link) eine "dreiste Provokation".
Apachev habe gegen das "Einreiseverbot" in frontnahe Gebiete verstoßen und sich in den Ruinen von Sudscha außerdem unflätiger Ausdrücke, des Vandalismus und der Sachbeschädigung schuldig gemacht. Wenn Apachev unbedingt an die Front wolle, solle er sich freiwillig zur Armee melden.
"Drache verschlingt eigenen Schwanz"
Der Vorgang führte zu einer bizarren "Kunstdebatte", die erhebliche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Patriotenkreise offenlegte. Spötter fühlten sich an einen Kampf zwischen Kröten und Vipern erinnert (externer Link): "Der Drache begann seinen eigenen Schwanz zu verschlingen."
Kreml-Propagandist Sergei Markow verteidigte Apachev (externer Link) gegen die behördliche Standpauke: "Er ist cool. Manche Patrioten halten das für einen PR-Gag, um die Tragödie auszunutzen. Das ist nicht richtig!" Einer der wichtigen Kriegsblogger mit 251.000 Fans nannte Khinshstein einen "Idioten" und sprach von "Populismus".
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TV-Korrespondent Andrei Michejew beharrte darauf (externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt), es sei immer noch besser, wenn in den Ruinen von Sudscha russische statt ukrainische Graffitis zu lesen seien: "Doch dann empörten sich plötzlich Leute, die offensichtlich nichts mit dem Krieg am Hut haben. Für sie ist es Vandalismus, Mangel an Kultur und noch Schlimmeres, aber in Sudscha herrscht Krieg. Die Tatsache, dass die Stadt befreit wurde, bedeutet nicht, dass dort wie durch Zauberhand Frieden eingekehrt ist."
"Unser Dreck ist besser als ihr Dreck"
Ein Kollege von Michejew hatte ebenfalls kein Verständnis dafür, dass die russischen Behörden angesichts vieler ukrainischer Graffitis jetzt "saubere Wände" wollten: "Unser Dreck ist besser als ihr Dreck."
Anders der Militärbeobachter Roman Aljechin (190.000 Fans), der daran erinnerte (externer Link), dass ukrainische Soldaten einen Supermarkt in Sudscha mit Graffiti verunstaltet hatten, um vor den Schriftzügen triumphierende Selfies zu machen: "In diesem Fall sollte unser Vorgehen genau umgekehrt sein, nämlich Sudscha von allen Inschriften zu reinigen, da sie dort zu einem der Kennzeichen der Ukrainer geworden sind."
"Nicht jeder hat Komplexität kapiert"
Polit-Blogger machten auf eine "Anomalie" aufmerksam (externer Link). Dem Kreml sei es äußerst wichtig, den Eindruck zu erwecken, dass der Krieg auf russischem Gebiet erfolgreich beendet sei: "Ist Sudscha immer noch Frontgebiet, in dem die Mätzchen der Kriegsblogger und ihrer Barden angebracht sind? Nein, das ist wieder Russland, und nicht jeder hat diese Komplexität vollständig kapiert." Im Übrigen habe für Putins Behörden schon fast die "Nachkriegszeit" begonnen, weshalb sie Apachevs martialische Aktion "schmerzlich irritiert" habe.
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