Ein kleiner Schritt für einen Einzelnen, ein großer Sprung für die Menschheit: der legendäre Satz von Neil Armstrong, als er 1969 den Fuß auf den Mond setzte. Millionen verfolgten die Landung live im Fernsehen – verschwommene Bilder der Raumfahrt-Helden und ihres sperrigen Vehikels. Samantha Harvey kehrt in ihrem neuen Roman diesen staunenden Blick um: Sechs Personen an Bord einer Raumstation, um die Erde kreisend, sechzehn Mal in 24 Stunden. Sie schauen auf ihren Planeten, im Morgenlicht, in der Nacht, durchschneiden auf ihrem Weg Sonnenauf- und Untergänge, schweben über Stürmen und Stille.
Die Erde vom Weltraum aus zu betrachten sei ein bisschen wie bei einem Kind, das vor dem Spiegel zum ersten Mal begreife, sich selbst zu sehen, so Samantha Harvey in ihrer Dankesrede zum Booker-Preis. Ihr Roman ist eine Art literarische Meditation dieser Spiegelung, wie "Ulysses" von James Joyce oder Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway" erzählt er von einem einzigen Tag. Ein schmales Buch, auf Deutsch 230 Seiten, die einiges auslassen, was Romane sonst zu bieten haben. Einen echten Plot gibt es nicht, die Figuren werden keine ausgearbeiteten Charaktere.
Schicksalsgemeinschaft auf engstem Raum
Es sind kleine Einblicke in ihr Inneres, ihre Vergangenheit, die der Roman öffnet und gleich wieder schließt. Chie, die Japanerin, die im All die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhält. Der Amerikaner Shaun, der schon mit 15 wusste, dass er Kampfflieger werden wollte, Nell, die von ihrem irischen Mann Fotos seiner Schafe geschickt bekommt. Pietro aus Italien, Roman und Anton aus Russland. Eine Schicksalsgemeinschaft auf engstem Raum, aufeinander angewiesen wie die acht Milliarden Menschen unten auf der Erde. Und auch in der Schwerelosigkeit gibt es sehr praktische Dinge zu tun: "Die Rauchmelder austauschen, den Wasserversorgungstank 1 wechseln, einen neuen Tank an der Anschlussstelle 3 des Wasserversorgungssystems installieren, das Badezimmer und die Küche putzen, die Toilette-die-ständig-kaputtgeht reparieren."
Die im russischen Teil der Raumstation, dürfte das heißen, "Nur für russische Kosmonauten" steht an der Tür, alle anderen sollen die Toilette im amerikanischen Teil benutzen. Die Crew hält sich nicht an diese Regel aus den Verwerfungen der Erdpolitik, und diesmal sieht die Bodenkontrolle zu, ohne einzuschreiten. Ansonsten ist das Leben im All strikt reglementiert: Körperwerte dokumentieren, Seelenstimmungen ebenso, feste Schlafens- und Essenszeiten einhalten, ein Sportprogramm absolvieren, die Arbeit an Versuchsreihen mit Pflanzen und Mäusen. Und dann wieder, vor den Fenstern, das große, das ganz große Bild: "Der Himalaya schleichender Raureif; der Everest ein kaum erkennbarer kleiner Punkt. Jenseits der Berge bedeckt das satte, frische Braun des tibetischen Plateaus die Erde, von Gletschern und Flüssen durchzogen und mit saphirfarbenen, gefrorenen Seen übersät."
Kleiner Mensch, zerbrechliche Erde
In solchen Passagen schraubt sich der Roman in kleine Beschreibungsräusche hinein. Das hat seine sprachliche Kraft, kreist aber um eine Erkenntnis, die so umfassend ist, dass sie leer zu werden droht: wie klein der Mensch ist, wie schön und zerbrechlich die Erde. Der Anblick war einmal schockhaft betörend, Monate vor der Mondlandung von der Apollo-8-Mission auf Fotos gebannt: der über dem Mondhorizont aufgehende blaue Planet, klein in endlosem Schwarz.
Das Vertrackte mit diesem ikonischen Bild: Seine Erhabenheit lässt sich nicht immer neu wiederholen. Das aber versucht Samantha Harveys Roman, und dann gerät er in "routinierte Ehrfurcht", wie es an einer Stelle im Text selbst heißt. Und an einer anderen: "Denk einen neuen Gedanken, das sagen sie sich alle von Zeit zu Zeit. Die Gedanken, die einem im Orbit kommen, sind so pompös und alt."
Der Mensch als bedürftiges Wesen - auch im All
Stark ist das Buch, wo es vom Pathos seiner Grundkonstellation ins Konkrete zoomt, in wenigen, dichten Sätzen wie in einer Kamerafahrt aus Worten – unter die Wolkendecke eines Taifuns etwa, zu philippinischen Fischern, die das Unwetter bedroht. Oder wo es den Menschen lakonisch als bedürftiges Wesen zeigt, das Hunger hat, friert, Zahnpasta braucht und seinen Müll entsorgen muss, auf der Erde und im Weltraum.
"Umlaufbahnen" ist ein literarisches Wagnis. Und ein Roman, der nicht politisch daherkommen muss, um – in Zeiten der Klimakrise – politisch gelesen zu werden. Hier wird die Draufsicht auf die Erde tatsächlich zum Spiegel: Es ist der gleiche expandierende Forschergeist, der die Raumstation betreibt und ihren Heimatplaneten bedroht. Und der es in einer vergangenen Ära der technischen Zuversicht bis zum Mond geschafft hat. Die Arbeitsastronauten auf der Station verfolgen nebenbei eine aktuelle Mondmission, gegen die ihnen das eigene Kreisen im Orbit profan und beschränkt vorkommt. Demut und Vermessenheit sitzen noch immer dicht beieinander.
Samantha Harvey, "Umlaufbahnen", Roman, aus dem Englischen von Julia Wolf , 224 Seiten, dtv, 22,00 Euro
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