Prorussische Separatisten, die Moskau um Unterstützung bitten – viele erinnern die aktuellen Meldungen aus Transnistrien an ähnliche Vorgänge in der Ostukraine vor zwei Jahren. Damals folgte eine russische Invasion, Putin ließ seine Truppen das Nachbarland angreifen. Ist ein ähnlich düsteres Szenario bei der Region Transnistrien denkbar? Was hat es mit dem Gebiet auf sich, das völkerrechtlich zur Republik Moldau gehört? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wo liegt Transnistrien und wozu gehört das Gebiet?
Die selbst ernannte Republik Transnistrien ist ein schmaler Landstreifen in Südosteuropa zwischen dem Fluss Dnister und der ukrainischen Grenze. Die Fläche beträgt rund 3.500 Quadratkilometer (Bayern hat gut 70.000 Quadratkilometer). "In Transnistrien leben offiziell rund 440.000 Menschen", sagt Sabine von Löwis vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) auf BR24-Anfrage. "Weil die Auswanderung statistisch nicht genau erhoben wird, gehen Schätzungen aber eher von 370.000 aus."
International ist das Gebiet nicht als eigener Staat anerkannt. Völkerrechtlich gehört es zur Republik Moldau, die auch Moldawien genannt wird und in die EU möchte. Kontrolliert wird Transnistrien aber seit rund 30 Jahren von prorussischen Separatisten – mit eigener Regierung, Währung, Polizei und eigenem Militär. In dem Gebiet sind rund 1.500 russische Soldaten stationiert, dazu kommen große Waffen- und Munitionsbestände aus der Sowjetzeit.
Karte: Moldau und die militärische Lage in der Ukraine
Warum fordert Transnistrien von Russland "Schutz"?
Bei einem Sonderkongress in Tiraspol hat die transnistrische Abgeordnetenversammlung am Mittwoch eine Resolution verabschiedet. In der Resolution wird Russland gebeten, "Maßnahmen einzuleiten, um Transnistrien angesichts des zunehmenden Drucks durch Moldau zu verteidigen". Moldau habe einen "Wirtschaftskrieg" gegen Transnistrien gestartet und blockiere lebenswichtige Importe.
Laut Osteuropa-Expertin von Löwis hat Moldau den wirtschaftlichen Druck auf Transnistrien tatsächlich deutlich erhöht. "Seit dem Ukraine-Krieg ist die Grenze von der Ukraine zu Transnistrien geschlossen, über die früher viel Handel lief", erläutert sie. "Export und Importe werden streng von Moldau kontrolliert, seit Januar 2024 werden Zölle erhoben. Das Hauptziel dieses ökonomischen Drucks dürfte sein, dass sich Transnistrien wieder mehr in Moldau integriert."
Was genau will Transnistriens Führung?
Von Löwis alarmieren die aktuellen Schlagzeilen nur bedingt. "Solche Signale nach Russland kommen immer mal wieder. Zumal Russland Transnistrien schon jetzt massiv unterstützt, zum Beispiel mit Rentenzahlungen oder kostenlosen Gaslieferungen." Andererseits profitiere Transnistrien auch von der Annäherung Moldaus an die Europäische Union, für viele Unternehmen sei der Export in die EU inzwischen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Die Wissenschaftlerin glaubt nicht, dass die prorussische Führung in Transnistrien "das gleiche Drehbuch" anstrebt wie die Separatisten im Osten der Ukraine vor zwei Jahren. "Anerkennung als Staat durch Russland, ein Referendum, schließlich der Anschluss an die Russische Föderation – das ist meiner Meinung nach nicht, was Transnistrien will. Vielleicht hofft man dort erst mal nur auf zusätzliches Geld aus Russland, ein Ende der ökonomischen Blockade sowie Druck von Russland auf Moldau." Wie Moskau weiter vorgehe, sei - Stand jetzt – Spekulation.
Wie reagiert Russland?
Die erste Reaktion kam schnell. Russische Nachrichtenagenturen zitierten am Mittwoch das Außenministerium in Moskau mit den Worten, "der Schutz der Interessen der Bewohner Transnistriens, unserer Landsleute, ist eine der Prioritäten". Zuletzt behauptete Russlands Verteidigungsministerium, die Ukraine plane einen militärischen Angriff auf Transnistrien – ohne dafür Beweise vorzulegen. In seiner Rede an die Nation am Donnerstag ging Russlands Staatschef Wladimir Putin nicht auf Transnistrien ein.
Schon länger gibt es in ganz Moldau allerdings russische Destabilisierungsversuche. Der Kreml unterstützt Russland-nahe Oligarchen und Politiker. Moldaus Präsidentin Maia Sandu sagte in einem "NZZ"-Interview: "Leider stellt Russland die Hauptbedrohung unserer nationalen Sicherheit dar."
Was wollen die Menschen in Transnistrien?
Wichtig ist: Die Bevölkerung von Transnistrien ist nicht homogen. "Ungefähr ein Drittel fühlt sich russisch, ein Drittel moldauisch und ein Drittel ukrainisch", erläutert von Löwis. "Weil die eigenen transnistrischen Pässe international nicht anerkannt sind, gehen die Menschen bei der Passwahl durchaus auch pragmatisch vor. Manche haben sogar einen moldauischen und einen russischen Pass."
Was die Menschen in Transnistrien aktuell über eine mögliche Annexion durch Russland denken, dazu gibt es laut von Löwis kein gesichertes Meinungsbild. 2020, also noch vor dem Ukraine-Krieg, habe eine Umfrage des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien mit britischen und US-amerikanischen Kollegen ergeben, dass damals 56 Prozent für einen Anschluss gewesen seien. Das seien deutlich weniger gewesen als bei einem international nicht anerkannten Referendum 2006, bei dem laut offiziellen Angaben 93 Prozent dafür stimmten.
Hat Russland die militärische Stärke für eine weitere Front?
Ob Russland gerade militärisch in der Lage wäre, eine große Zahl zusätzlicher Soldaten nach Transnistrien zu schicken und womöglich gar an einer neuen Front gegen die vergleichsweise kleine Armee von Moldau zu kämpfen, ist unter Militärexperten umstritten. Letztlich hinge das vom genauen Szenario ab. Klar ist: Moldau ist in keinem Militärbündnis. Es gibt zwar Kooperationen mit der Nato, aber keine weitreichenden Sicherheitsgarantien für das südosteuropäische Land.
Laut dem Militärexperten Nico Lange sind die militärischen Möglichkeiten Putins in Transnistrien aktuell eng begrenzt. "Weder per Luft noch per See kann Russland gerade verstärken", schrieb Lange zuletzt auf der Plattform X.
Denn: Eine Landverbindung zwischen russisch kontrolliertem Gebiet und Transnistrien gibt es nicht. Darauf verwies jüngst auch Politik-Professor Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck im BR24-Interview: "Das heißt, die russische Seite müsste die Region Odessa in der Ukraine erobern – und das ist in den nächsten eineinhalb Jahren sehr, sehr unwahrscheinlich, außer die militärische Unterstützung für die Ukraine würde völlig ausbleiben."
Wie positionieren sich Moldau und die EU-Staaten?
Moldaus Regierung hat die Aussagen der prorussischen Separatisten über "Druck" aus Moldaus Hauptstadt Chisinau als "Propaganda" zurückgewiesen. Die Region profitiere von "der Politik des Friedens, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Integration mit der Europäischen Union", die "allen Bürgern" zugutekomme, erklärte der stellvertretende Ministerpräsident Oleg Serebian am Mittwoch.
Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen warnte angesichts der Lage in Transnistrien vor einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs. "In der moldauischen Region Transnistrien zeichnet sich ab, wovor viele seit zwei Jahren warnen: nämlich, dass der Krieg sich ausweitet", sagte Röttgen der "Rheinischen Post". Ein Sprecher des Auswärtigen Amts betonte mit Blick auf Moldaus Staatsgebiet: "Das Ziel ist eine Lösung des Konflikts auf Basis der territorialen Integrität und Souveränität von Moldau."
Was sind die Hintergründe des Konflikts?
Die überwiegend russischsprachige Region Transnistrien spaltete sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von der gerade erst unabhängig gewordenen Republik Moldau ab. 1992 lieferten sich die Separatisten mit Unterstützung Russlands einen Krieg mit der prowestlichen Regierung Moldaus. Hunderte Menschen wurden getötet. Die russische Armee griff an der Seite Transnistriens ein, die Separatisten konnten sich deshalb durchsetzen. Seither ist der Konflikt eingefroren.
Verschiedene diplomatische Bemühungen, eine Lösung zu finden, sind seitdem gescheitert. Das gilt nach jetzigem Stand auch für das "5+2-Format", an dem Russland beteiligt war. Jahrelang sicherte Moskau zu, dass eine Lösung der Transnistrien-Frage nur unter Wahrung der territorialen Integrität Moldaus angestrebt werde. Das entsprechende Dekret widerrief Putin im Februar 2023.
In Transnistrien sind sowjetische Symbole allgegenwärtig. Auf der Flagge prangen Hammer und Sichel, in Tiraspol steht eine riesige Lenin-Statue. Die Sheriff-Gruppe, eine Holding, die von zwei ehemaligen sowjetischen Polizisten gegründet wurde, hat das Gebiet fest im Griff. Sie besitzt dort Supermärkte, Tankstellen, eine Cognac-Destillerie und eine Kaviarfarm. Ein Drittel des transnistrischen Haushalts lande in den Kassen von Sheriff, berichtete 2015 die investigative Nachrichtengruppe RISE Moldova.
Mit Informationen von AFP
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