Der rechtsnationalistische russische Polit-Kolumnist Igor Skurlatow, der sich brüstet, "Mitglied des russischen Schriftstellerverbands" zu sein, versorgt täglich rund 420.000 Fans mit seinen Brandreden. Neuerdings wittert er einen "monströsen Verrat" im Kreml, dem es "so gut wie möglich" zu widerstehen gelte. Grund für Skurlatows Wut: Ihm fehlt eine "Antwort auf Kursk", also eine angemessene Reaktion des Kremls auf die Besetzung russischer Gebiete durch ukrainische Truppen. Womöglich gebe es in der russischen Regierungszentrale eine "sechste Kolonne", also Agenten, die Putin zur "Kapitulation zwingen" wollten.
"Vom Sieg nicht einmal träumen"
Dieser Unmut von ganz rechts kann Putin nicht kaltlassen, zumal Skurlatow keineswegs der Einzige ist, der ihn offen ausspricht. Der extremistische Denker Alexander Dugin, auch als "Kreml-Philosoph" bezeichnet, verlangte "tiefgreifende strukturelle Veränderungen": "Ohne diese können wir von einem Sieg nicht einmal träumen. Der Krieg durchleuchtete die Schwachstellen Russlands wie ein Röntgenbild. Es ist einfach unmöglich, sie noch weiter mit einer bravourösen Verherrlichung der bestehenden Verhältnisse zu tarnen."
Die Korruption sei inakzeptabel, die jahrelange Deindustrialisierung zu einem Problem geworden und bremse das "Siegespotential". Die Kosten bei einem Einsatz taktischer Atomwaffen seien "eindeutig unerschwinglich hoch".
TV-Berichterstatter Alexander Sladkow, der 920.000 Abonnenten mit seiner Sicht der Dinge auf dem Laufenden hält, fordert "alle drei Tage" russische Raketenschläge auf die Ukraine: "Ansonsten versteht die Bevölkerung Russlands das Katz-und-Maus-Spiel einfach nicht. Solange wir freundlich bleiben, werden wir selbst erdrosselt." Sladkow zitierte Lenin, wonach ein Krieg "ganz oder gar nicht" geführt werden müsse. Zurzeit werde jedoch "halbherzig" gekämpft: "Ich sage das nicht aus Blutdurst, aber unsere Soldaten tun mir leid."
Boris Roschin (900.000 Fans) knurrte über Putins neueste Entscheidung, regionale Grenztruppen künftig aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren: "Besser spät als nie. All das hätte natürlich schon 2022 erfolgen können und müssen, wodurch viele Probleme seitdem hätten vermieden werden können."
"Größte Schäden durch Lügen"
Militärblogger Roman Aljechin (188.000 Fans) beschimpfte russische Politiker, weil sie behauptet hatten, die Armee habe genug "Kommunikationsmittel": "Wir können nicht gewinnen, wenn wir nicht anfangen, die Wahrheit zu sagen. Dieser Krieg hat einmal mehr gezeigt, dass der größte Schaden nicht durch Minen und Raketen, sondern durch Lügen verursacht wird." Es werde "ständig auf allen Ebenen" gelogen.
Aljechins Gesinnungsgenossen hofften inständig darauf, dass Russland "bis zum Herbst" die gesamte Front "zum Einsturz" bringe. Putin müsse "asymmetrisch" auf das Vorrücken der Ukraine auf russischem Gebiet reagieren, um keinen Gesichtsverlust zu riskieren. Die offiziell verbreiteten "Zustimmungswerte" des Präsidenten sind derweil auf angeblich 73,6 Prozent "abgestürzt". Nie zuvor hatte das staatliche russische Meinungsforschungsinstitut WZIOM einen wöchentlichen Rückgang um 3,5 Prozentpunkte veröffentlicht.
"Dann haben die Tatsachen ein Problem"
Exil-Politologe Abbas Galljamow urteilte über die Scharfmacher: "Diese Menschen werden nicht ruhen, bis sie das Land in den Zusammenbruch getrieben haben." Immerhin scheine die Position der Falken "zunehmend prekär" zu werden: "Befürworter von Verhandlungen haben jedes Recht zu sagen: Warum reißt ihr euer Maul auf? Geht raus und gewinnt. Wer hält euch zurück?"
Nicht nur der Exil-Politologe Anatoli Nesmijan macht sich darüber lustig, dass russische Generäle schon rein sprachlich bizarre Schönfärberei betreiben: Ständig treffen vermeintliche "Trümmer" ukrainischer Drohnen, russische Gebäude und Anlagen, eine Umschreibung für Volltreffer, während von "Wrackteilen" die Rede ist, wenn Drohnen tatsächlich in der Luft beschädigt wurden: "Die russische Propaganda bleibt sich treu. Wenn Nachricht und Tatsachen nicht übereinstimmen, haben halt die Tatsachen ein Problem."
Politologe Andrei Nikulin verwies aus gegebenem Anlass darauf, dass Russen in ihrer Geschichte immer nur siegreiche Herrscher mit einer Aura aus "Stärke und Angst" würdevoll gefunden hätten, während alle anderen verachtet worden seien: "Es stellt sich heraus, dass der einzige Risikofaktor für das errichtete System eine Niederlage von außen ist, die einerseits gefürchtet wird und andererseits die Autorität und das Fundament des Systems untergräbt." Wirtschaftliche Unannehmlichkeiten und "sogar Hunger" seien für die Regierung dagegen weit weniger gefährlich.
Putin selbst hatte bei einem Treffen mit Wirtschaftsfunktionären behauptet, ein Sieg über die Ukraine sei die "wichtigste Grundvoraussetzung" für Russlands weitere Entwicklung.
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