"Russland bleibt ein Land mit einem geringen Maß an zwischenmenschlichem Vertrauen", so der Generaldirektor des staatlichen russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, Valery Fedorow. Er bezieht sich dabei auf eine von ihm verantwortete Umfrage vom Juli, wonach 73 Prozent der Befragten der Meinung gewesen sein sollen, man müsse im Umgang mit anderen Menschen grundsätzlich "vorsichtig sein".
Vermögende und gebildete Russen seien allerdings tendenziell weniger misstrauisch. Fedorow erklärt sich den gegenseitigen Argwohn seiner Landsleute mit dem "schnellen und schmerzlichen Zusammenbruch" der UdSSR samt der damals geltenden gesellschaftlichen Umgangsformen: "Damals hörten die Russen auf, Fremden zu vertrauen. Das beschränkt sich seitdem auf den engsten Familienkreis und ein paar Freunde."
"Kultur des Misstrauens wird erneuert"
Eigentlich sei eine Stärkung des zwischenmenschlichen Vertrauens durch die "allmähliche Normalisierung" nach den wild bewegten Wendejahren zu erwarten gewesen. Doch die Anhebung des Rentenalters durch Putin im Jahr 2018 habe die Gesellschaft "schwer traumatisiert", gefolgt von der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und "globalen Turbulenzen". Dadurch sei die nachwachsende Generation ebenfalls zum "Opfer schwieriger Zeiten" geworden: "Heute sind junge Russen genauso beunruhigt und misstrauisch wie ihre Eltern, die die Prüfungen der 'wilden Neunziger' durchgemacht haben. Die Kultur des Misstrauens wird erneuert, was die Möglichkeiten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes erheblich einschränkt.
Fedorow rät zur "Wiederherstellung von Frieden und Ruhe", um das verbreitete Misstrauen einzudämmen und empfiehlt "sorgsam durchdachte Maßnahmen der Sozialtherapie", was aus dem Munde eines Kreml-Funktionärs seltsam anmutet. Entsprechend erstaunt zeigte sich der Politologe Ilja Gratschenkow, dass der staatliche Meinungsforscher neuerdings anscheinend "seine persönliche Meinung" äußern dürfe: "Er steht den Behörden nahe, ist aber bereit, die Wahrheit anzusprechen."
"Politik des Teilens und Herrschens"
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan (115.000 Fans) erklärt sich das Misstrauen vieler Russen mit der Politik des Putin-Regimes: "Die Regierung und ihre Propagandisten verbreiten in allen von ihnen kontrollierten Medien Blödsinn, wobei sich alles um Hass auf die übrige Welt dreht. Ihre Aufgabe ist klar: Menschen zu spalten, gegenseitig zu Feinden machen. Ständig wird ihnen eingetrichtert, wen sie dieses Mal hassen sollen – Ukrainer, Angelsachsen, Schwule, ausländische Agenten, die Liste ist offen."
Noch letztes Jahr sei der Söldnerführer Jewgeni Prigoschin als Volksheld gefeiert worden, heute gelte er als Rebell und Staatsfeind: "Wie kann man unter solchen Bedingungen jemandem vertrauen? Die Politik des Teilens und Herrschens ist eine uralte Methode der Mächtigen, und bisher hat sie noch immer funktioniert. Diejenigen, die nicht bereit sind, ihre Umgebung zu hassen, werden zu Staatsfeinden erklärt und damit selbst zu Hassobjekten."
"Überwachung macht misstrauisch"
Dass Menschen, die in einer Diktatur gelebt haben, vielfach besonders misstrauisch sind, beschränkt sich keineswegs auf Russland: "Das Gefühl, überwacht zu werden, das macht misstrauisch. Das schüttelt man auch nicht einfach so ab. Und ich denke, manchmal sehe ich noch die Spuren davon, dass Menschen so ein Misstrauen mitgenommen haben", so die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und spätere Bundesbeauftragte der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler in einem Gespräch mit dem MDR.
Sie sagte im Oktober 2020 allerdings auch, und das passt ganz zur oben erwähnten Analyse von Nesmijan: "Wenn wir wechselseitig misstrauisch geworden wären, dann hätte die Stasi ja schon die Hälfte von dem erreicht, was sie wollte: unsere Freundschaften, das Verhältnis zu unseren Lieben zu zerstören. Also haben wir immer versucht, das irgendwie auszublenden."
Misstrauen gegen demokratische Gepflogenheiten
Der russische Politologe Andrei Nikulin verwies darauf, dass es in der jüngeren Geschichte seines Landes nur zwei leitende Staatsmänner gegeben habe, die Erfahrung mit wirklich offenen Streitgesprächen gehabt hätten: Ministerpräsident Alexander Kerenski (1881 - 1970) und Wladimir Lenin (1870 - 1924) vor der bolschewistischen Revolution: "Alle anderen kamen entweder durch Vetternwirtschaft, geheime Verschwörungen des Politbüros oder Staatsstreiche an die Macht. Niemand hatte Erfahrung mit der Teilnahme an freien politischen Diskussionen oder auch nur den Wunsch, diese Erfahrung nachzuholen."
Das habe das Misstrauen gegenüber demokratischen Gepflogenheiten erheblich gesteigert und dazu geführt, dass jedwede ernsthafte öffentliche Aussprache als Untergrabung der Autorität verstanden werde.
Ironischerweise behaupten die staatlichen russischen Meinungsforscher, dass fast alle Russen, nämlich etwa 80 Prozent, Putin vertrauen. Er selbst vertraut aber offenbar niemandem außer seiner eigenen inneren Stimme, sonst würde er nicht ständig klagen, der Westen habe ihn "hintergangen".
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