Der russische Präsident mit Mikrofon
Bildrechte: Pavel Benyakov/Picture Alliance

Putin auf "Wahlkampftour" in Chabarowsk

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Haben Deutschland überholt": So macht Putin "Wahlkampf"

Im März wird in Russland gewählt, deshalb ist der russische Präsident im Land unterwegs und verbreitet propagandistische Halb- und Unwahrheiten. Das stößt teils auf Befremdung, teils auf Ironie: "Entweder der Westen ist schuld oder niemand."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Ja, das ist ein erstaunliches Ergebnis", zeigte sich Putin bei einem Auftritt im fernöstlichen Chabarowsk von der eigenen - äußerst fragwürdigen - Wirtschaftsstatistik beeindruckt: "Es scheint, als würden wir von allen Seiten erdrosselt und abgewürgt, aber wir sind in Bezug auf das Gesamtwirtschaftsvolumen die Nummer eins in Europa geworden, haben Deutschland überholt und den fünften Platz in der Welt eingenommen: nach China, den USA, Indien und Japan kommt Russland, die Nummer eins in Europa." Damit bezog sich der Präsident auf eine Debatte, die bereits im vergangenen Sommer für geteilte Ansichten sorgte.

Die Weltbank veröffentlichte damals eine Statistik, wonach Russland im Jahr 2022 ein minimal höheres Bruttosozialprodukt erwirtschaftet habe als Deutschland, wenn die Zahlen nach "Kaufkraftparität" vergleichbar gemacht werden. Doch dieses Verfahren ist unter Ökonomen äußerst umstritten, weil es zum Beispiel anfällig für Währungsmanipulationen ist. So wird der Rubel-Kurs derzeit vom Kreml im Vergleich zum US-Dollar zwangsweise hoch gehalten, weil der Handel stark eingeschränkt wurde. Im Übrigen bezieht sich Putin nur auf die absolute Zahl, denn pro Kopf der Bevölkerung ist die Wirtschaftsleistung in Russland nach den Berechnungen der Weltbank nur ungefähr halb so hoch wie in Deutschland, und zwar selbst dann, wenn die erwähnte "Kaufkraftparität" berücksichtigt wird.

"Leider nicht mehr die Ersten in Europa"

"Leider sind wir nicht mehr die Ersten in Europa", spekuliert denn auch der russische Wirtschaftsexperte Alexej Bobrowski: "Tatsächlich haben wir Deutschland beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Kaufkraftparität überholt. Die Daten werden einmal im Jahr von der Weltbank aktualisiert, und genau zu Beginn des letzten Jahres haben wir Deutschland hinter uns gelassen, und zwar dank des ersten Präsidialerlasses von 2022, der den Absturz des Rubels stoppte. Wie wir uns alle erinnern, ließ die Zentralbank im Jahr 2023 jedoch zu, dass der Rubel um 30 Prozent einbrach, und es war Zeit für einen zweiten Präsidialerlass, um die Situation zu retten. Dank ihm wird der Rubel bis April stabilisiert. Aber jetzt sind wir de facto nicht mehr die erste Volkswirtschaft in Europa, und de jure wird die Weltbank dies in ihrem nächsten Bericht auch festhalten."

"Das durch Sanktionen abgeschottete Russland unterscheidet sich in seinem Warenangebot deutlich von Deutschland und daher wirken diese Vergleiche etwas bemüht", stimmt Politologe Anatoli Nesmijan zu, der darauf verwies, dass sich qualitätsvolle und minderwertige Produkte stets "manipulativ" gleichsetzen ließen, etwa auf dem Automarkt: "Es ist logisch, dass Lügner und Manipulatoren das nehmen, was ihnen gerade nutzt, aber stets verwerfen, was ihren Lügen entgegensteht."

Im russischen Wirtschaftsblatt "Kommersant" hieß es lapidar, Putins Jubelmeldung sei durch die Sanktionen zu erklären: Die Russen könnten seit Kriegsausbruch deutlich weniger teure ausländische Waren kaufen und müssten sich mit inländischen Alternativen "zu relativ günstigeren" Preisen bescheiden. Vor allem "billige asiatische Produkte" hätten die Kaufkraft vorübergehend steigen lassen.

"Bums! Explodierten die Preise"

Noch mehr Verwunderung löste Putin mit seinem Hinweis aus, die Eierpreise in Russland seien deshalb außer Kontrolle geraten, weil durch "steigende Einkommen" der Konsum zugenommen habe und der Wohlstand ausgebrochen sei: "Die Behörden haben nicht rechtzeitig daran gedacht, die Einfuhren zu erhöhen. Bums! Und dann explodierten die Preise." Ebenfalls irritierend wirkte auf viele Beobachter Putins Bemerkung, im Haushalt sei ein "relativer großer Etat" für die Sanierung der maroden Infrastruktur eingestellt: "Gestern Abend habe ich mit meinen Kollegen darüber gesprochen, dass sie wahrscheinlich sogar noch mehr gegeben hätten, wenn die Baubranche wirklich darum gekämpft hätte. Aber offenbar haben sie das nicht getan."

Kein Wunder, dass russische Leser nicht durchweg begeistert waren von solchen Aufmunterungsversuchen. Putin sei "irgendwie plötzlich verdummt", war im St. Petersburger Blatt "Fontanka" zu lesen: "Er blödelt wieder herum." Offenbar seien die Russen aus seiner Sicht wieder mal selbst an allem schuld. "Wenn die Einkommen steigen würden, würden die Menschen Rindfleisch, Fisch und Kaviar kaufen!!! Kein billiges Hühnchen. Unser Großvater ist ziemlich alt geworden", schrieb einer der fast 300 Kommentatoren. Ein anderer zitierte einen russischen Werbeslogan: "Kauen ist besser als reden." Ein Land, in dem der Präsident persönlich alles erklärt, sei ja zum "Wohlstand verdammt", spottete ein anderer. Und auch diese originelle Ansicht wurde gepostet: "Manchmal ist es besser, der falschen Person die Hand zu schütteln oder zu vergessen, was sie gerade gesagt hat, wie es Joe Biden vormacht, als solche Kommentare über die Gründe für steigende Preise abzugeben."

"Sie scheren sich nicht um Putins Krieg"

Angesichts desolater Heizkraftwerke, Tausenden von unterkühlten Wohnungen und unpassierbarer Straßen erschien Putins Auftritt nicht wenigen Russen grotesk, zumal die Öl- und Gaseinnahmen nach den Zahlen des russischen Finanzministeriums im letzten Jahr um rund 24 Prozent einbrachen, was zu einem Haushaltsdefizit von umgerechnet rund 32 Milliarden Euro führte. "Das Putin-Regime ist nicht in der Lage, dem Stress eines langen Krieges standzuhalten, egal wie sehr es versucht, andere vom Gegenteil zu überzeugen", urteilte der in London lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow: "Putin kann diesen Krieg nicht gewinnen, weil das von ihm geschaffene System von oben bis unten verrottet ist." Grund dafür sei die grassierende Korruption. "Hunderttausende von kleinen Nagetieren" zerfräßen die russische Wirtschaft und Gesellschaft, was die spektakulären Rohrbrüche in zahlreichen Städten augenscheinlich gemacht hätten.

Pastuchow sprach von einem "Gangstersystem", in dem sich jeder seinen eigenen Ast vom Baum der staatlichen Pfründe absäge: "Auf allen Ebenen des Systems gibt es ehemalige und aktuelle Sicherheitskräfte, echte und falsche Oberste, große und kleine Leute, und sie alle scheren sich nicht um Putins Krieg, mit einer Ausnahme: Sie sind sehr an dessen Budget interessiert." Letztlich habe Putin mit dem Angriff auf die Ukraine einen "Tsunami" ausgelöst, dem sein Herrschaftssystem nicht gewachsen sei.

"Scheitern ist offensichtlich"

Was die Verantwortlichkeiten für die marode Infrastruktur betreffe, kenne Putin offenkundig nur eine Ausrede, meinte ein Blogger: "Es scheint ein Grundsatz im Wahlkampf zu sein, dass Putin die Nomenklatura permanent beruhigt und in Aussicht stellt, dass er immer an ihrer Seite kämpfen wird, sie niemals verraten wird, damit sie ihn weiterhin unterstützt. Aber es scheint auch ein Lebensmotto von Putin zu sein, dass entweder der Westen für alle Probleme im Land verantwortlich ist, oder, wenn man das den Menschen nicht schmackhaft machen kann, niemand schuld ist."

Für russische Regional- und Kommunalpolitiker bedeuteten Putins Bemerkungen, dass genug Geld für Sanierungen vorhanden gewesen sei, allerdings "nichts Gutes", hieß es in einem Newsportal mit 200.000 Abonnenten: "Das Scheitern bei der Vorbereitung auf die Heizsaison ist offensichtlich. Das Versagen bei der Kommunikation mit den Menschen ist offensichtlich. Dass der Gouverneur [der Region Moskau] nicht rechtzeitig aus dem Urlaub zurückkehrte, konnte nicht verheimlicht werden. Bis April besteht die Gefahr, dass alles weiter zusammenbricht und scheitert. Das Ausmaß der Krise wächst nur." Die politische Spitze werde das nicht treffen, meinten Kommentatoren, wohl aber "einfache Beamte". Die Ermittlungen würden wie immer den "Weg des geringsten Widerstands" gehen.

"Eier sind die letzte Proteinquelle"

Der liberale St. Petersburger Ex-Politiker Maxim Resnik schließt sich dieser düsteren Prognose in einem TV-Interview an. Jeder Schuljunge in Russland wisse, dass das Land völlig korrupt sei: "Sie haben früher Geld entwendet, jetzt stehlen sie noch mehr, weil sie nicht wissen, was als nächstes passieren wird, und es außerdem den Krieg gibt, wohin das ganze Geld abfließt. Es liegt auf der Hand, dass weder im Wohnungsbau und bei den kommunalen Dienstleistungen, noch in anderen Bereichen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben, sondern mit der Lebensführung der Bürger, nichts Gutes zu erwarten ist, denn die Bürger sind für das Putin-Regime heute lediglich Konsumgüter."

Der bereits oben erwähnte Politologe Anatoli Nesmijan schimpfte mit Blick auf Putins "Eier-Theorie": "Anscheinend hängt der Preisanstieg bei Autos, als sie anfingen, so viel wie Flugzeuge zu kosten, auch mit einer beispiellosen Nachfrage und der Tatsache zusammen, dass sich jetzt jede Familie fünf Autos anschafft. Und Wohnungen werden anscheinend so zahlreich verkauft wie die Sonnenblumenkerne von Großmüttern – deshalb steigen die Preise. Generell ist das eine allgemeingültige Formel, um alles zu erklären. Die einzige Frage, die unklar bleibt, ist, warum die Russen plötzlich mehr Eier kaufen. Die Antwort liegt auf der Hand: Sie haben weniger Geld, daher ist Fleisch für sie nicht mehr verfügbar und Eier sind die letzte Proteinquelle."

"So können wir nicht weiterleben"

Putin habe den "inneren Verfall des Landes" nicht glaubhaft vergessen machen können, heißt es bei einem Blogger mit 70.000 Fans, und die vom Präsidenten genannten Zahlen seien "nicht belastungsfähig". So gebe der Kreml für die baufällige Infrastruktur nur drei Prozent des Geldes aus, das in den Krieg fließe. Putin benötige dringend "Helden und Sündenböcke", daher werde er den Wählern wohl demnächst ein paar Köpfe auf dem Tablett servieren: "Die berüchtigte Korruption, für die sich neuerdings sogar Generalstaatsanwalt Krasnow interessiert, trägt dazu bei, dass Investitionen in die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur minimiert werden. Es scheint, dass unsere eigene kommunale Spezialoperation auf uns wartet, denn so können wir nicht weiterleben, da nicht das feindliche Europa, sondern die russische Bevölkerung einfriert."

"Mythos für glückliche Narren"

Es ist bezeichnend, wie sich die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti die Lösung aller Probleme vorstellt: "Die Schlussfolgerung aus allem, was passiert, ist äußerst einfach. Alle kritischen Infrastruktureinrichtungen müssen in Staatseigentum überführt werden. In Fällen, in denen das einstweilen nicht möglich ist, sollten Eigentümer verpflichtet werden, eine staatliche Prüfung des technischen Zustands von Versorgungsnetzen durchzuführen, und zwar stets auf Anordnung der Bundesbehörden und nicht auf lokaler Ebene, um Korruption zu vermeiden. Die öffentliche Verwaltung ist nicht perfekt, aber sie ermöglicht es immer, den Verantwortlichen zu finden, den Schuldigen vor Gericht zu bringen und die gesamte Macht des Landes einzusetzen, um Störungen zu beseitigen." Bedauerlicherweise sei Privateigentum "praktisch heilig", doch "effiziente Privatunternehmen" seien ein "Mythos für glückliche Narren".

Nicht alle Russen wollten sich dieser Bewertung anschließen. Es gab auch einen anderen aufschlussreichen Kommentar zu Putins Propaganda-Thesen: "Leute, hört auf, reich zu werden. Sonst bleiben die Regale leer."

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!