Im Juli 2023 bei der Eröffnung des Museums des "Ruhms der Marine"
Bildrechte: Valentin Jegorschin/Picture Alliance
Audiobeitrag

St. Petersburgs Gouverneur Alexander Beglow

Audiobeitrag
> Kultur >

"Toiletten-Krieg": Russischer Gouverneur löst Erstaunen aus

"Toiletten-Krieg": Russischer Gouverneur löst Erstaunen aus

Bei einem Besuch von Kriegsinvaliden behauptete der St. Petersburger Gouverneur Alexander Beglow fälschlich, in der Ukraine gebe es geschlechtsneutrale Schultoiletten: "Den Jungs, die das gesehen haben, müssen unsere Werte nicht mehr erklärt werden."

"Diejenigen, die mit einem Maschinengewehr in der Hand durch den von der Ukraine besetzten Teil des Donbass gestürmt sind, verstehen gut, wofür wir kämpfen", so der St. Petersburger Gouverneur Alexander Beglow auf seinem Telegram-Kanal über einen Lazarett-Besuch bei Verwundeten: "Diesen Jungs, die Toiletten in Schulen gesehen haben, in denen es statt zwei Räumen – für Mädchen und Jungen, drei Räume gibt – für Mädchen, Jungen und geschlechtsneutrale WCs, muss nicht erklärt werden, für welche Werte wir stehen." Mit dieser höchst befremdlichen Äußerung, die er trotz Aufforderung von russischen Militärbloggern nicht löschte, löste der kremltreue Politiker zahlreiche Reaktionen aus, die meisten wenig schmeichelhaft.

Im Nachhinein erläuterte die Verwaltung des Gouverneurs, er habe gar keine konkreten Toiletten in der Ukraine gemeint, sondern einen "Trend, der in der Genderkultur des Westens" erkennbar sei. Dieser widerspreche den russischen Werten. Allerdings beeilten sich staatlich gesteuerte Medien darauf hinzuweisen, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow bereits vor längerer Zeit über seine für ihn offenbar traumatischen Erlebnisse beim OSZE-Gipfel in Schweden Ende 2021 gesagt hatte: "Während der Pause fragte ich, wo der Toilettenraum sei. Sie zeigten mir einen Raum mit der Aufschrift TOILETTE. Ich fragte: 'Ist das für Damen oder Herren?' Sie antworteten mir: 'Wir haben hier gemeinsame.' Ich habe es nicht geglaubt, aber es war wirklich so. Sie können sich nicht vorstellen, wie unmenschlich das ist, einfach nicht menschlich."

Auch Putin geißelt "gemeinsame Toiletten"

Immerhin, rechtsradikale russische Medien zeigten sich begeistert von der aberwitzigen WC-Agitation und regten sich im Einklang mit Beglow und Lawrow darüber auf, dass sich die Ukraine zur "Regenbogen-Agenda" bekenne, die aus unerfindlichen Gründen mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wurde. Womöglich hatte sich Beglow an einer Putin-Rede vom 30. September 2022 orientiert. Damals hatte der russische Präsident ungeachtet der stark sinkenden russischen Geburtenrate gesagt: "Wollen wir wirklich, dass den Kindern unserer Schulen von der Grundschule an Perversionen auferlegt werden, die zur Erniedrigung und Aussterben führen? Damit ihnen eingetrichtert wird, dass es neben Frauen und Männern angeblich noch andere Geschlechter gibt, und ihnen eine Geschlechtsumwandlung angeboten wird?"

Bei einem Treffen mit Kommunalpolitikern am 16. Januar kam Putin abermals auf das Thema zu sprechen, einschließlich des für den Kreml offenbar überragend wichtigen"WC-Problems": "Unter den Bedingungen, die heute in manchen westlichen Ländern herrschen, ist es schwierig, Kinder großzuziehen. Entschuldigung, gemeinsame Toiletten für Jungen und Mädchen, so etwas in der Art! Das ist dort bereits was Alltägliches, Gewöhnliches geworden. Von denen, die mal aus unterschiedlichen Gründen emigriert sind, kehren viele bereits zu uns zurück oder denken über eine Rückkehr nach. Für Menschen mit traditionellen, normalen menschlichen Werten ist es sehr schwierig, dort unter solchen Bedingungen zu leben. Und wir werden alles tun, um das kulturelle Erbe der Völker unseres Landes zu bewahren."

"Übrigens ein lustiger Moment"

Zu denen, die Gouverneur Beglow aufforderten, seinen grotesken Post zu löschen, gehörte der Blogger Oleg Sarew (289.000 Fans). "Leider wird er in der Ukraine bereits lächerlich gemacht", bedauerte der Kommentator und wollte wissen, dass es in der Ukraine gar keine geschlechtsneutralen WCs gebe. Exil-Medien waren weniger mitfühlend. "Das Ziel der Spezialoperation wurde noch nie so treffend umrissen", hieß es im Telegram-Kanal NEXTA mit rund einer Million Abonnenten: "Stalin für das Vaterland, Putin für die Toiletten. Übrigens ist das ein lustiger Moment. Wenn ein typischer Mann aus der Steppe im russischen Outback zu seinem bescheidenen Verschlag geht, der aus einer Jauchegrube mit Dach besteht, wird er froh sein, dass dieser Abort sicher und nicht geschlechtsneutral ist."

Beglows Post sei ein weiterer Beweis dafür, dass die russische Elite keine Ahnung habe, warum der Krieg überhaupt geführt werde, war in einem weiteren wichtigen Kanal zu lesen: "Der Kampf um traditionelle Toiletten ist ein starkes Motiv. Aber wir streiten uns wohl kaum darum." Politologe Wladimir Pastuchow schrieb: "Als ich Gouverneur Beglows Text las, der bereit ist, dafür zu kämpfen, dass es in Russland niemals geschlechtsneutrale Toiletten gibt, dachte ich, dass das für ihn ein wirklich existenzielles Problem sein muss. Ein wahrhaft gläubiger orthodoxer Sozialist (soweit ich weiß, nennen wir das heute Kommunismus) kann dort offenbar nicht eintreten, ohne sich beleidigt zu fühlen."

"Putin unbestrittener Spitzenreiter auf diesem Gebiet"

Einige russische Blätter erinnerten daran, dass Putin selbst vor vielen Jahren im Zusammenhang mit tschetschenischen Terroristen gesagt hatte, er werde die Täter bis in die Toilette verfolgen lassen, wo sie dann gründlich eingetaucht werden sollten. Der Präsident hatte diesen martialischen Spruch später als "unangemessen" bedauert.

"Das Thema Aborte wird seit langem vom Spitzenkandidaten monopolisiert", meint dazu Blogger Anatoli Nesmijan (111.000 Fans): "Damit macht er seine Witze, das ist sein Fachgebiet. Daher wäre es angebracht, andere Beispiele für Patriotismus zu verwenden und Toiletten und Jauchegruben dem unbestrittenen Spitzenreiter auf diesem Gebiet zu überlassen." Nesmijan konnte sich den Spott nicht verkneifen, dass es auch auf seiner russischen Schule drei unterschiedliche Toiletten gegeben habe: "Für Mädchen, Jungen und Lehrer. Vielleicht ist das Beglow entgangen, aber das ist die Standard-Anordnung in unseren Bildungseinrichtungen."

Boris Wischnewski, stellvertretender Vorsitzender der oppositionellen Jabloko-Partei und Kommunalpolitiker in St. Petersburg, erinnerte daran, dass laut der russischen Statistik-Behörde ein Viertel der russischen Haushalte nicht an eine Kanalisation angeschlossen sei: "Hierhin könnte die Energie gelenkt werden, die in den Kampf gegen den Westen und die NATO fließt. Und ganz generell kann man sich kaum etwas geschlechtsneutraleres als einen Abort im Hof vorstellen."

Ein weiterer Blogger fragte sich, wie sich wohl die Verwundeten im Lazarett fühlen müssten, denen gesagt werde, sie verdankten ihre Verletzungen dem Kampf gegen geschlechtsneutrale WCs: "Da weder Beglow, noch seine PR-Leute irgendeine Ahnung davon haben, wie die Menschen leben, endete der Auftritt beschämend."

"Alles hat seine Vorteile"

Irgendwie entspreche der Kampf um die Deutungshoheit über die Toiletten dem Geist der Postmoderne, behauptete jemand, der eine Parallele zu den Glaubenskriegen des 17. Jahrhunderts zog und hellsichtig analysierte: "Alles hat seine Vorteile. Endlich konnte zumindest jemand mit Autorität eine klare und verständliche Antwort auf die Frage des 'Warum' geben, die seit zwei Jahren wie ein Damoklesschwert über dem Krieg hängt. Die Ironie will es, dass Beglows einst wichtigster politischer Gegner, [Söldnerführer] Jewgeni Prigoschin, vor einem halben Jahr eine ebenso fundierte wie klar formulierte Behauptung geäußert hat. Es bleibt also nur zu wünschen, dass Alexander Dmitrijewitsch [Beglow] fortan die Nutzung des Luftverkehrs ablehnt, denn die Angelsachsen sind rachsüchtig und heimtückisch." Eine Anspielung darauf, dass Prigoschin samt seiner gesamten Führungsmannschaft einem Flugzeugabsturz zum Opfer fiel.

"Nicht jeder ist gleich gut darin"

Wenn Putin auf Toiletten zu sprechen komme, sei das nicht gleichbedeutend mit rangniedrigeren Politikern, schrieb Politologe Ilja Ananjew: "Jede Silbe klingt anders." Normalerweise seien die Gouverneure sehr sensibel, wenn es darum gehe, die Befindlichkeiten im Kreml wahrzunehmen, aber in ihrem Munde könne manche Äußerung "ganz anders" aufgefasst und mit Hohn und Spott quittiert werden. Möglicherweise teste der Kreml derzeit neue Propaganda-Versatzstücke auf Gouverneursebene: "Natürlich müssen wir verstehen, dass es anmaßend ist, von den Leitern der Regionen ein ideales Weltbild zu fordern, wo sie doch nur Lautsprecher ihrer Ebene sind. Wahrscheinlich wollen die meisten Gouverneure Wladimir Putin in ihrer Entschlossenheit nacheifern, aber nicht jeder ist gleich gut darin."

Maria Achmetowa, Mitglied im russischen Menschenrechtsrat, staunte über Beglows Einlassungen, weil sie selbst häufig in Lazaretten unterwegs sei und dort noch nie nach "geschlechtsneutralen Toiletten" gefragt worden sei. Vielmehr hätten die Verwundeten über Durst im Schützengraben geklagt und berichtet, wie sie nach Schnee gegiert hätten, den sie mit Schlamm vermischt zu sich genommen hätten: "Die wahre Angst besteht darin, in dieser kalten Erde zu bleiben, die von Kratern übersät ist und hineinzurutschen wie die Leichen der Feinde, die in der Nähe lagen."

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!