Die staatliche Kontrolle der Medien habe doch sehr viele "Vorteile", argumentiert die russische Medienexpertin und präsidiale PR-Frau Lidija Malygina verblüffend offenherzig in der regierungsnahen Zeitung "Iswestija". Anlass für ihren Leitartikel ist eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, wonach angeblich 63 Prozent der Befragten für Zensur sei, obwohl sie in der russischen Verfassung ausdrücklich untersagt ist. "Wir sehen gefährliche Meinungsverschiedenheiten in Fragen der allgemeinen Sicherheit, Entfremdung und sogar Feindseligkeit vieler Medien gegenüber dem Staat, den Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden angesichts der Gefahr durch den internationalen Terrorismus", so Malygina: "Der mangelnde Schutz der Macht, der Medien und der Zivilgesellschaft in Krisensituationen ist zu einem der zentralen Probleme der Mediensicherheit in Russland geworden."
"Unsere Bürger wollen sich sicher fühlen"
Terroristen legten es darauf an, die Medien zu "schocken" und dadurch ein "günstiges Umfeld" herzustellen. Die "Iswestija"-Kolumnistin wettert gegen "destruktive" Botschaften, die darauf abzielten, das "Weltbild der Gesellschaft als Ganzes oder einzelner sozialer Gruppen zu verändern". Insbesondere die "Verfälschung des historischen Gedächtnisses" sei gefährlich, aber auch die Verbreitung "negativer Darstellungen vom Staat als solchem und einzelner Regierungsorganisationen". Wenig verwunderlich, dass vor der "Förderung nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" und der "Zerstörung traditioneller Familienwerte" gewarnt wurde: "Wir sprechen über kommunikative Bedrohungen der nationalen Sicherheit. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass sich unsere Bürger im Medienraum sicher fühlen wollen."
"Moralische Überlegungen nur noch an vierter Stelle"
Die erwähnte Umfrage stammt vom 28. Juli vergangenen Jahres, ist also schon ein halbes Jahr alt, wurde aber erst jetzt veröffentlicht. Das sei gewiss kein Zufall, argumentiert Politikchef Iwan Rodin von der vorsichtig kremlkritischen "Nesawissimaja Gazeta", zumal die Sozialforscher ihre Zahlen nicht nur verbreitet, sondern gleich auch noch ganz im Sinne der Regierung interpretiert hätten: "Die Umfrage wirkt wie eine Art Glückwunsch zum russischen Tag der Presse am 13. Januar." Offenbar sei dem Kreml daran gelegen, das in der Verfassung verankerte Verbot der Zensur mit der "Stimme des Volkes zu übertönen". Die Verantwortlichen hätten bezeichnender Weise nicht eigens darauf hingewiesen, dass auch die Zahl der Zensurgegner in den letzten 15 Jahren gestiegen sei, von 24 auf 30 Prozent.
Rodin machte darauf aufmerksam, dass sich die Argumentation der Zensur-Verfechter geändert habe. Hätten sie früher immer behauptet, es gehe ihnen um die Bekämpfung von "Vulgarität, Unsittlichkeit und Gewaltdarstellungen", sei es ihnen jetzt offenbar ein Anliegen, "jegliche staatsfeindliche Propaganda" zu unterdrücken: "Moralische Überlegungen stehen nur noch an vierter Stelle und teilen sich den Platz mit der Besorgnis um die patriotische Erziehung der Jugend. Interessanter ist jedoch der Stimmungsumschwung bei den Gegnern der staatlichen Zensur. Vor 15 Jahren stand die Sorge um die Meinungs- und Medienfreiheit und um die Demokratie an erster Stelle. Jetzt lautet das Hauptargument, dass die Menschen das Recht haben sollten, selbst zu bestimmen, was wahr und was falsch ist, das heißt, jegliche Informationen zu erhalten und darüber nachzudenken."
"Mittel zur Verhinderung von Panik"
Das "Allrussische Zentrum für Meinungsforschung" hatte in seiner Analyse behauptet, in Russland gebe es seit 15 Jahren eine deutliche Mehrheit für Zensur. Der "typische" Befürworter staatlicher Eingriffe sei weiblich und älter als 45 Jahre, lebe auf dem Land und schaue vergleichsweise viel Fernsehen. Unter den Gegnern der Zensur dominierten die jungen Männer in Großstädten, die sich vor allem über das Internet informierten: "In der Regel wird das Wort 'Zensur' eher mit einer negativen Konnotation verwendet und wahrgenommen, seine Verwendung ist jedoch nicht immer gleichbedeutend mit einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. Befürworter der staatlichen Medienzensur sehen darin am häufigsten ein Mittel zur Gewährleistung von Stabilität und Ordnung in der Gesellschaft und zur Verhinderung von Panik."
Immerhin zehn Prozent der Befragten seien der Ansicht, dass staatliche Zensur das "kulturelle Niveau" hebe. Wenig überraschend, dass die russischen Soziologen behaupten, es gehe in erster Linie um die Bekämpfung von "Fake-News". Vor ein paar Jahren dagegen sei es den Russen noch wichtig gewesen, "Dummheit zu vermeiden" und gegen "Verleumdungen und Desinformation" vorzugehen.
"Schmutzige Bomben im Meinungsstreit"
Der viel gelesene Blogger Alexander Chodakowski (570.000 Fans) bemerkte, er sei eigentlich mehr für "Selbstzensur", aber die sei nun mal ein "subtiles Werkzeug". Zur "Krankheitsvorbeugung" sei die "allgemeine Impfung", also die staatliche Zensur, wohl einfacher zu handhaben. So habe der verstorbene Söldnerführer Jewgeni Prigoschin mit seiner Dauerkritik am Kreml zwar sehr freimütig ausgesprochen, was große Teile der Bevölkerung bewegte, allerdings auch die Grenzen der russischen Diskussionskultur deutlich gemacht: "Schon zu seinen Lebzeiten habe ich gesagt, dass ein so freier Umgang mit Kritik dazu führen werde, dass es am Ende gar keine Kritik mehr geben würde – das System würde über uns Quarantäne verhängen. Gleichzeitig gelangt jede ernsthafte Kritik ins 'Dark Web' und das System verliert die Kontrolle über das Recht auf freie Meinungsäußerung." Chodakowski sprach von "schmutzigen Bomben" im Meinungsstreit.
Star-Blogger und TV-Propagandist Alexander Sladkow hielt es sogar für hinnehmbar, das Kriegsrecht samt Zensur einzuführen, "aber nur für alle gleichermaßen". Es dürfe dann keine Ausnahmen geben, auch nicht für Kulturträger: "Von mir aus wäre das in Ordnung. Das einzig Ärgerliche ist jedoch, wenn verantwortungsbewusste Menschen, die sich für die gemeinsame Sache engagieren, streng verwarnt werden und diejenigen, die stillschweigend nichts tun, im Wesentlichen Verräter, behandelt werden, als ob sie gesetzestreu lebten." Damit machte Sladkow deutlich, dass nicht wenige ultrapatriotische Militärblogger sauer sind auf die russische Armeeführung, die auch von "Wohlmeinenden" keine öffentlichen Ratschläge akzeptiert.
"Menschen sehen alles selbst"
"Ja, alles braucht ein Gleichgewicht. Ja, einige Informationen können schädlich sein", so Sladkows Kollege Andrej Medwedew (176.000 Fans), der den Umgang mit Kritik für ein Zeichen gesellschaftlicher Reife hält: "Heutzutage ist es unwahrscheinlich, dass Militärkorrespondenten oder Blogger irgendetwas aus Bosheit tun, sie schreiben vielmehr aus der Inbrunst ihres Herzens, und es besteht ein großer Unterschied darin, ihnen zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben oder sie zu bestrafen; ob die Realität akzeptiert oder versucht wird, zu verbieten, über sie zu schreiben." Der Staat müsse die Kraft haben, auch die "bittere Wahrheit" zu ertragen: "Die sowjetische Führung, insbesondere Stalin persönlich, war sich darüber im Klaren, dass es Situationen gab, in denen es keinen Sinn hatte, etwas zu verheimlichen. Die Menschen sehen alles selbst."
"Jede Kritik Machenschaft des Feindes"
Politologe Georgy Bovt nahm sich die Freiheit, ironisch darauf hinzuweisen, dass "auf dem Friedhof natürlich immer noch die größte Ruhe und die absolute Disziplin" herrschten: "Die Befürworter der Zensur sind selbst fast immer davon überzeugt, dass sie von den Folgen nicht konkret betroffen sein werden. Aber wenn der Gouverneur dann bei massiven Versorgungsnotfällen die Kommentarfunktion auf seinen Social-Media-Konten abschaltet, sind sie überrascht und empört: Wie ist das möglich, warum können wir die regionalen Behörden nicht erreichen, die ständig beteuern, dass sie in der Lage sind, das Gemeinwohl zu fördern und Panik und destruktive Stimmungen zu unterbinden."
Im Übrigen seien viele Zensur-Befürworter Heuchler, wie die Tatsache beweise, dass das "nur minimal zensierte" Telegram-Netzwerk inzwischen von 83 Millionen Teilnehmern genutzt werde: "Die Menschen suchen dort nach Informationen, die sie nicht in den Medien finden, die der Zensur oder der Selbstzensur unterliegen. Gleichzeitig verengt der Staat ständig den unzensierten Raum, indem er sich angeblich im Namen des Gemeinwohls und der Stabilität darauf verlässt, dass die Masse die Erscheinungsformen staatlicher Zensur hinnimmt." Die Sperrung von Websites werde zehntausendfach außergerichtlich durchgesetzt. Amtsträgern gehe es wohl vor allem darum, die Berichterstattung über "mögliche Korruptionsverstöße" zu unterdrücken: "Fast jede Kritik an den Behörden als Machenschaften des Feindes zu bezeichnen, ist zu einem stabilen Trend geworden."
"Angst ist ein normales Gefühl"
Bovt ließ es sich nicht nehmen, auf eine zeitgleiche amerikanische Umfrage hinzuweisen, wonach eine Mehrheit der Befragten ebenfalls für "Einschränkungen von Fake-News und gewalttätigen Inhalten" sei. Allerdings machte das durchführende Pew Research Center in seiner Analyse vom 20. Juli letzten Jahres darauf aufmerksam, dass die Amerikaner eher die anbietenden Social-Media-Unternehmen als den Staat in der Verantwortung sahen, "Falschinformationen" auszusieben. Im Übrigen seien deutlich mehr US-Demokraten als Republikaner für Zensur-Eingriffe gegen extremistische Inhalte, wobei sich diese unterschiedliche Einstellung seit 2018 deutlich verstärkt habe - wohl ein Zeichen für die vertiefte Spaltung der amerikanischen Gesellschaft.
Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte bereits im November gesagt: "Ich glaube, dass es in Kriegszeiten natürlich eine gewisse Zensur und bestimmte Regeln geben sollte, die in normalen Friedenszeiten inakzeptabel wären, aber jetzt sollten sie ein obligatorisches Instrument sein." Er warnte vor einem "schmalen Grat" zwischen erlaubter Kritik und verbotener "Diskreditierung" und räumte ein, dass die harsche Reaktion der Behörden manchen Bürger einschüchtere: "Angst ist ein normales Gefühl, das einem Menschen in bestimmten Lebenssituationen innewohnt. Daran ist nichts auszusetzen. Und einige haben sogar das Land verlassen."
70.000 Websites gesperrt
Gemäß dem russischen Fachportal OVD-Info wurden von Kriegsbeginn bis Ende letzten Jahres mindestens 43 Journalisten strafrechtlich verfolgt, darunter auch solche, die emigriert waren. So wurden Blogger in Abwesenheit zu elf Jahren Haft wegen "Fake News" und "Diskreditierung der Armee" verurteilt. Andere wurden als "ausländische Agenten" gebrandmarkt, zahlreiche Websites drangsaliert, darunter auch die russische Wikipedia-Version. Der Vorsitzende des russischen Menschenrechtsrats, Valery Fadejew, behauptete bei einer Begegnung mit Putin Anfang Dezember, die "eigentliche Zensur" werde sowieso von den USA ausgeübt. Als Beispiel nannte er Google, wo die Web-Suche "angeblich zur Bequemlichkeit des Nutzers" vereinfacht werde, "in Wirklichkeit aber zu seiner Manipulation".
Die russische Medienbehörde soll 2023 nach einer Meldung des kremlfreundlichen Portals "News" sage und schreibe 529.000 Netzadressen wegen "verbotener" Informationen auf eine schwarze Liste gesetzt und 70.000 wegen "illegaler Inhalte" gesperrt haben.
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