Die alten Schilder sind noch da. Mit Kreide geschrieben steht dort "88-89 Ulm" oder "67-69 Mannheim". Schilder aus Zeiten, als die Postleitzahlen in Deutschland noch vierstellig waren und die Bundesbahn Briefe in eigens angehängten Post-Waggons transportierte. Um keine Zeit zu verlieren, sortierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundespost die vielen Schreiben oftmals schon auf der Fahrt. Am Würzburger Hauptbahnhof hatte die Post einen eigenen Gleisanschluss: Von dort ging es für die Briefsäcke dann auf direktem Weg in das Postverteilzentrum nebenan.
Wo einst jede Minute zählte, stehen die Zeiger der großen Bahnhofsuhren still – seit über 30 Jahren. Die Glasscheiben der Uhren sind eingeschlagen und im Gleisbett haben Moos, Sträucher und sogar kleine Bäume ein Zuhause gefunden. Tauben scheinen diesen Ort zu lieben, ihre Hinterlassenschaften sprenkeln die Gleise wie weißes Konfetti im Karneval.
Eine alte Gleisanlage wird zur Bühne
Seit Jahren gibt es Pläne für eine neue Nutzung des Areals rund um die Posthalle, seit Jahren ist nichts passiert. Die alte Gleisanlage der Deutschen Bundespost am Würzburger Hauptbahnhof ist jetzt ein "Lost Place", ein Monument der Vergänglichkeit. Bis heute, denn das Kollektiv "anderer Tanz" haucht dieser Ruine neues Leben ein: Für einen Abend verwandelt sich dieser Ort zu einer Bühne.
Dafür wischt die Theaterhalle am Dom säckeweise Taubenkot zur Seite. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlegen einen schwarzen Teppich, stellen Scheinwerfer darauf und dutzende Klappstühle davor. Dann gehört die Bühne ganz ihnen: Tänzerin Yana Yana Madriyani und Choreograph Thomas Kopp haben sich eine Performance ausgedacht, die zu diesem "Lost Place" passt. Das sich verloren, sich "lost" fühlen ist ein zentrales Motiv der Tanz-Performance.
Wenn die Kultur selbst "Lost Place" wird
"Als ich das erste Mal hier war, war das Wetter auch wirklich trist und es hatte so was Sehnsuchtsvolles", sagt Thomas Kopp. Dieses "melancholische Alleinsein" kenne jede Künstlerin, jeder Künstler aus ihrem beruflichen Alltag. Dazu zählt, sich ständig rechtfertigen zu müssen, dass ihre Kunst auch ein "echter Beruf" ist, mit dem man sorgenfrei über die Runden kommen möchte.
Thomas Kopp fragt: Was passiert eigentlich, wenn keiner mehr Lust hat, Kunst zu produzieren, weil es ja keine "Arbeit" ist und weil man damit kein Geld verdient? Erlebt die Kulturszene dann denselben Verfall wie die alte Gleisanlage, wird sie dann selbst zum "Lost Place"?
Schauspielerinnen erzählen von ihrem Kampf um Anerkennung
Die Aufführung ist eine Melange aus Madriyanis Tanz-Choreographie, einem Monolog und Interviews mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die eingespielt werden. Sie erzählen von finanziellen Nöten oder dem Druck in Castings. Im Interview erzählt eine Schauspielerin, dass für ihr durchschnittliches Einkommen "der Durchschnittsdeutsche nicht vor die Haustür gehen würde".
Nach der Generalprobe ist die 28-jährige Yana Madriyani aufgeregt. Am Lost Place zu spielen sei ganz anders als auf einer Theaterbühne: "Ich muss viel lauter sprechen", sagt sie. Die hohen Decken und die vorbeiratternden Güterzüge verschlucken jedes Flüstern.
Publikum wird Spielort erst kurz vor Beginn verraten
Bis das Publikum eintrifft, muss sie sich noch etwas gedulden. Den Zuschauern haben die Organisatoren vorab nur einen Treffpunkt verraten. Wo die Performance genau stattfindet, wissen sie nicht. Gerade das habe sie an dem Konzept gereizt, sagt eine Zuschauerin gegenüber BR24. "Spannend, dass dieses Unbekannte dabei ist", sagt sie.
Eine halbe Stunde vor Beginn wird das Publikum von den Organisatorinnen der Theaterhalle am Dom abholt. Schon der Fußweg zum "Lost Place" samt kleiner Einführung in die Geschichte des Orts gehört zur Veranstaltung. An der Bühne angekommen gibt der Choreograph Thomas Kopp eine Einführung.
Auf einmal Leben im "Lost Place"
"Was ich am Tanzen mag, ist, dass ich mich mit Bewegungen besser ausdrücken kann als mit Worten", sagt Yana Madriyani. Sie sieht dem Publikum dabei tief in die Augen, von links nach rechts wandern ihre Augenpaare durch die Reihen. "Was ich am Tanz nicht mag, ist das Sprechen", sagt sie. Dann legt sie los. Wie sie ihren Körper durch die Luft wirbelt, schrecken sogar die Tauben hinter dem Dach hervor. Ganz überrascht von so viel Leben im "Lost Place".
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