💡 Peter Jungblut beobachtet für BR24 Kultur die Debatten hinter den Meldungen rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dazu verfolgt er russische Medien, Telegram-Kanäle und Social Media, und wertet die Einschätzungen / Stimmen dort dazu feuilletonistisch aus und ordnet ein. So zeigen wir, wie Millionen Menschen innerhalb der russisch-sprachigen Welt über die Ereignisse diskutieren.
Die Wut der Militärblogger über den Tod der beiden prominenten russischen Drohnenpiloten Sergei Gritsai (Kampfname "Ernest") und Dmitri Lisakowski ("Goodwin") wird für Putin zu einem Problem. Die Männer hatten ein "Abschiedsvideo" vorbereitet, in dem sie ihren Kommandeur beschuldigten, in kriminelle Geschäfte verwickelt zu sein, auch mit Drogen.
Seitdem ist von einem willkürlichen "Todeskommando" die Rede, in dem weitere Drohnen-Spezialisten als Fußsoldaten fielen. Das hat die bizarre Folge, dass der Tod dieser zwei "Stars" der Kampfdrohnen-Szene deutlich mehr Aufregung verursacht als das massenhafte Sterben an der Front. Kremlsprecher Dmitri Peskow sah sich mittlerweile veranlasst, die heikle Angelegenheit öffentlich dem Verteidigungsministerium zuzuschieben (externer Link): "Der Minister hat dazu Anweisungen erteilt."
"Desorganisation ist nicht durch Strafe zu beseitigen"
Tatsächlich hatte Ressortchef Andrei Beloussow angeordnet, den Fall zu untersuchen und ihn persönlich auf dem Laufenden zu halten, was von Beobachtern als höchst ungewöhnlich bezeichnet wurde. Doch die Skepsis ist groß: "Manche behaupten sogar, dass jetzt spezielle Untersuchungskommissare berufen werden. So funktioniert das nicht", schrieb Blogger Roman Aljechin (188.000 Fans, externer Link) unter Verweis auf einen entsprechenden Befehl von Stalin vom 4. Oktober 1941 gegen "Willkür"-Maßnahmen von Offizieren.
Aljechins verblüffende Argumentation: "Man kann die Desorganisation der Armee nicht durch Kontrolle und Strafen beseitigen; man muss zunächst eine Grundordnung schaffen, also Regeln einführen, die für alle bindend sind."
"Wir sind keine Kinder"
Ähnlich sarkastisch ein weiterer Insider (externer Link): "Leute, ich muss euch enttäuschen. Wenn der Verteidigungsminister persönlich in solch schwerwiegenden Fällen denjenigen, die eigentlich dazu verpflichtet gewesen wären, Anordnungen erteilen muss, sich damit zu befassen, bedeutet das, dass sich die gesamte Sabotageabwehr in den Händen des Feindes befindet oder in Korruption versunken ist und nicht funktioniert."
Wie die vom Kreml angestoßene "Untersuchung" verlaufen wird, wagte einer der Blogger präzise vorherzusagen (externer Link): "Wir sind keine Kinder und verstehen sehr gut, was für ein System wir in unserem Land haben." Für Putin sei ein "äußerst unangenehmer Notfall" eingetreten, weshalb das System die lautstarke Empörung mit noch mehr Lärm übertönen müsse. Dazu diene die demonstrative Anordnung des Ministers.
"Situation äußerst negativ"
Alles Weitere sei absehbar: Die Propagandisten würden "entdecken", dass sich die gefallenen Drohnenpiloten kleinerer oder größerer Disziplinlosigkeiten schuldig gemacht hätten und deshalb zurecht in den Kampfeinsatz geschickt worden seien: "Sie werden es so darstellen, dass der Kommandeur lediglich die Ordnung wiederherstellen wollte."
Ein weiterer einflussreicher Kommentator mit 360.000 Abonnenten verwies auf eine "leider absolut unzuträgliche Lage" (externer Link) in der russischen Armee, weil es vielen Kommandeuren an "Verständnis" für die Rolle der meist jungen und hochgebildeten Drohnenpiloten mangele. Er forderte den Verteidigungsminister unmissverständlich auf, Abhilfe zu schaffen. Statt für gezielte Weiterbildung zu sorgen, würden die Drohnen oft Wehrpflichtigen überlassen: "Diese Situation wirkt sich äußerst negativ auf die Kampfkraft der russischen Streitkräfte insgesamt aus."
"Aus allen Ritzen quillt Scheiße"
Die "Zwei Majore", die mit 1,2 Millionen Fans zu den wichtigsten Meinungsmachern der "Z-Gemeinde", also der Militärblogger, gehören, äußerten die Hoffnung, dass der Generalstab nach dem Tod der Drohnenpiloten den "wahren Bedarf" an Kampfsoldaten erkenne (externer Link): "Um in der Sprache der Wirtschaft zu bleiben, ist es unmöglich, Personal zu verschwenden, das falsch eingesetzt wird und auf deren gründliche Ausbildung der Staat jahrelang Geld und Mühen verwendet hat."
Die kreml-gesteuerte Propaganda müht sich einstweilen vergeblich, den Sturm der Entrüstung zu kanalisieren. Polit-Blogger Dmitri Steschin (155.000 Fans) wetterte (externer Link), jetzt komme "aus allen Ritzen die Scheiße" hochgequollen und dahinter steckten die ukrainischen Geheimdienste. Das Schicksal des beschuldigen Kommandeurs ist ungeklärt: Es hieß wahlweise, er sei "geflüchtet" oder "festgenommen" worden, was gleichermaßen bestritten wurde. Es gelte die Unschuldsvermutung, wurde ein Telegram-Kanal zitiert, der ansonsten mit ganzen 122 Fans verdächtig wenig Widerhall findet.
Das hellsichtige Fazit eines kremlkritischen Bloggers (externer Link): "Seit mehr als zwei Jahren kommen Propagandisten zu immer derselben Schlussfolgerung. Ein völlig anderes Russland ohne Korruption, Lügen, Kleptokratie, Zerfall der Gesellschaft, sei in der Lage, die Krise zu meistern. Eine andere Frage ist, ob ein solches Russland eine derart herausfordernde Geopolitik, einschließlich ihrer militärischen Komponente, überhaupt braucht."
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!