💡 Peter Jungblut beobachtet für BR24 Kultur die Debatten hinter den Meldungen rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dazu verfolgt er russische Medien, Telegram-Kanäle und Social Media, und wertet die Einschätzungen / Stimmen dort dazu feuilletonistisch aus und ordnet ein. So zeigen wir, wie Millionen Menschen innerhalb der russisch-sprachigen Welt über die Ereignisse diskutieren.
"Wir vermissen schmerzlich Chruschtschow", spottete ein Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" und wollte damit deutlich machen, dass er Putin keine neue Kubakrise zutraut, wie sie im Oktober 1962 die Welt in Atem hielt. Der sowjetische Machthaber Nikita Chruschtschow (1894 – 1971) suchte damals eine Kraftprobe mit den USA. Ein anderer Leser scherzte unter Anspielung auf Putins neueste Drohgebärden, es lohne sich offenbar nicht mehr, saure Pilze für den Winter einzumachen. Angesichts der scharfen Rhetorik des russischen Präsidenten empfehle es sich vielmehr, sie sofort zu verspeisen.
Putin musste auch Vergleiche mit notorischen Aufschneidern wie Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi aushalten. Nicht wenige verwiesen darauf, dass der russische Präsident seit langem behaupte, Russland kämpfe mit der gesamten Nato. Er wiederhole sich also ständig. Selbst der kremlnahe Propagandist Sergej Markow schrieb enttäuscht: "Aus Russland kommen nach wie vor sehr harte Worte, aber bisher keine harten Taten. Daher die Prognose: Nach kurzem Nachdenken wird der Westen zu dem Schluss kommen, dass es wieder nur Drohworte aus Russland gab, Russland aber Angst vor harten Schritten haben wird!"
Vergleich mit Äsops "Hirtenjungen"
Offenbar sind sogar linientreue Zeitgenossen inzwischen abgestumpft vom Daueralarm aus dem Kreml und einer der größten Polit-Kanäle mit 525.000 Fans verglich Putin mit dem Hirtenjungen aus Äsops Fabel, der aus Langeweile so oft vor einem "Wolf" warnt, bis die Dorfbewohner ihn nicht mehr ernst nehmen und das Raubtier dann doch zuschlägt: "So endet offenbar die Geschichte mit der Sonderoperation in der Ukraine, die als 'Selbstverteidigung gegen die auf uns gerichtete Bedrohung' begann, um eine 'noch größere Katastrophe' zu verhindern."
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan (115.000 Abonnenten) schrieb lakonisch: "Ungefähr die gleichen Worte äußerte Putin bei der Lieferung westlicher Panzer, Flugzeuge, Luftverteidigungssysteme und anderen Waffen. Daher kann man kaum erwarten, dass die Antwort des Westens diesmal anders ausfallen wird als zuvor."
"Leere Worte für das heimische Publikum"
Dmitri Drise, der meinungsstarke Kolumnist des Wirtschaftsblatts "Kommersant" zeigte sich wenig überzeugt, dass Putin das rhetorische Zeug und die Autorität für eine neue "Kubakrise" hat: "Über mögliche russische Vergeltungsmaßnahmen herrscht bisher keine große Aufregung. Sie müssen auch rein physisch etwas haben, mit dem Sie zuschlagen können. Das kann schwierig werden."
Sehr originell die Ansicht eines weiteren russischen Kommentators, der auf den US-Wahlkampf verweist: "Wenn Trump nicht bereit ist, mitzumachen [und sich als Retter vor einem Atomkrieg aufspielen will], werden Wladimir Putins Drohungen 'leere Worte für das heimische Publikum' bleiben. Wir glauben nicht daran, dass der Kreml wirklich hart vorgehen wird. Schon allein deshalb, weil die Gegenseite in diesem Fall unvergleichlich mehr Trümpfe in der Hand hat." Putin werde die russische Wirtschaft überdies vollends "ruinieren", wenn er es mit der Nato aufnehmen wolle.
"Putin hat das Gegenteil erreicht"
Blogger Dmitri Sewrkjukow (55.000 Fans) argumentiert, Putin fehlten schlicht die Verbündeten, um international glaubwürdig zu sein: "Damit ein solches Signal umfassend wahrgenommen wird und den Westen zu einer Umorientierung bewegt, müsste das Thema bei der UNO auf dem Tisch liegen und so viele befreundete und neutrale Staaten müssten Russlands neue Grenzen anerkennen, bis Generalsekretär António Guterres mit seinem Schuhabsatz aufs Rednerpult haut [wie der Legende nach Chruschtschow am 12. Oktober 1960]."
Politologe Andrei Nikulin gab zu bedenken, dass Putin mit seinen ständigen Warnungen bisher das genaue Gegenteil dessen erreicht habe, was seine Propaganda anstrebe: "Letztlich provozierte er durch sein eigenes Handeln den eigentlichen Ausbau der militärischen Fähigkeiten des Nato-Bündnisses. Putins größte Errungenschaft besteht darin, dass Europa, das lange davor zurückschreckte, seine Verteidigungsausgaben nun deutlich erhöht."
"Wir mussten es mit der Nato aufnehmen"
Ironisch hieß es von einem Blogger mit 155.000 Followern, Putin bereite mit seiner "Drohkulisse" wohl heimlich eine Exit-Strategie vor: "Haben wir endlich eine Entschuldigung für die gescheiterte Spezialoperation in der Ukraine gefunden? Nach dem Motto: 'Natürlich haben wir verloren, aber wir haben ja nicht nur mit der Ukraine gekämpft, sondern mussten es mit der gesamten Nato aufnehmen!'"
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