Das kommt ja auch nicht so oft vor, dass auf Münchner Bühnen rote Fahnen geschwenkt werden und das Publikum dabei vor revolutionärer Rührung ein paar Tränen vergießt. Das Pathos, das die Franzosen so sehr lieben, kommt im katholischen Teil Bayerns in der Regel nicht so gut an. Das macht viele französische Opern zum Kassengift, und die französischen Schauspiel-Klassiker wie Corneille, Racine und Voltaire werden wegen ihrer kühlen Erhabenheit sowieso fast nicht mehr aufgeführt, von Molière-Komödien mal abgesehen.
Ja, bei ihren vielen Revolutionen verstehen die rebellischen Franzosen keinen Spaß, und Victor Hugo, der 1862 den romantischen Roman "Die Elenden" schrieb, ging auch nicht gerade als Humorist in die Literaturgeschichte ein, sondern wegen seiner opulenten Historien-Spektakel. In diesem Fall geht es um die Zeit zwischen dem Ende Napoleons 1815 und dem Juniaufstand in Paris von 1832, der kläglich scheiterte.
Gefühle stürmen himmelwärts
"Les Misérables", 1980 uraufgeführt, ist bekanntlich eines der erfolgreichsten und ungewöhnlichsten Musicals - die stehenden Ovationen und der Jubel im Münchner Gärtnerplatztheater bewiesen das einmal mehr, sämtliche Vorstellungen in dieser Spielzeit waren schon vor der Premiere ausverkauft. Was ist das Erfolgsgeheimnis der Musik von Claude-Michel Schönberg und den Texten in der deutschen Übersetzung von Heinz Rudolf Kunze? Eine Hymne reiht sich an die andere.
Das Pathos, das sonst fast immer unerträglich ist, hier kann es sich voll entfalten: Auf den Schwingen dieser Musik stürmen die Gefühle himmelwärts. Es geht in diesem Fall auch gar nicht um Liebe und ähnliche Kleinigkeiten, sondern um Weltverbesserung im allumfassenden Sinn, um den Glauben an eine Utopie. Der wird heutzutage ja gern als naiv ironisiert, lächerlich gemacht. In "Les Misérables" erheben sich die heldenhaften Barrikaden-Toten aus ihren Gräbern und singen gemeinsam mit den Überlebenden von dem Tag, über dem die revolutionäre Sonne aufgehen wird.
Keine Angst vor Pathos
Josef Köpplinger hat das Musical im vergangenen Dezember im schweizerischen St. Gallen neu inszeniert, jetzt macht es in München Station. Ausstattung und Besetzung können es in jeder Hinsicht mit dem Londoner West End aufnehmen, wo "Les Mis" schon 15.000 Vorstellungen hinter sich hat. Kein anderes Musiktheater-Stück kann da mithalten. Die Helden, die hier vorgeführt werden, sind samt und sonders Gefangene ihrer Vergangenheit und je verzweifelter sie um eine bessere Zukunft kämpfen, desto mehr verstricken sie sich in das gelebte Leben mit all seinen Versäumnissen und Versagensängsten. Sehr romantisch, sehr französisch, sehr überzeugend, sehr modern.
Dirigent Koen Schoots hat keine Angst vor Pathos, vor schluchzenden Geigen und klagenden Bläsern. Dabei ist das Ganze gar nicht sentimental, sondern eher melancholisch: Es wird soviel gestorben wie neuerdings in 90-Minuten-Krimis. Bei der Premiere musste Hauptdarsteller Armin Kahl gesundheitsbedingt kurz nach seinem Auftritt aussetzen, Co-Besetzung Filippo Strocchi sprang ein, erst nur stimmlich, nach der Pause auch als Darsteller. Er war genau so präsent und berührend wie Daniel Gutmann als Bösewicht Javert, Katia Bischoff als aufopferungsvolle Èponine und Wietske van Tongeren als sterbenskranke Fantine.
"Abgeschaut" bei Oliver Twist
Herzerwärmend auch die Kinderdarsteller Philipp Hopf, Ricarda Livenson und Alice Motatainu. Es wurde schon deutlich, dass der französische Textdichter Alain Boublil von einer "Oliver Twist"-Aufführung zu dieser Story angeregt wurde, in der natürlich auch Aschenputtel-Motive enthalten sind. Wer auch mal wieder ein paar seelisch erhebende Runden unterm Sternenzelt drehen will, nimmt am besten den Roman von Victor Hugo zur Hand - und bucht ganz schnell Tickets, wenn wieder welche zu bekommen sind.
In dieser Spielzeit bis 14. Juni am Gärtnerplatztheater München, alle Vorstellungen ausverkauft. Weitere Termine sind in Vorbereitung.
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