Was auf den ersten Blick spektakulär wirkt, ist bei näherer Betrachtung eigentlich keine Neuigkeit und lässt russische Propagandisten dennoch vor Wut schäumen. In einem Beitrag für das britische Wirtschaftsmagazin "Economist" [externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt] listete der chinesische Politologe Feng Yujun vier Gründe auf, warum Putin seinen Angriffskrieg verlieren werde. Erstens sei der Widerstandgeist in der Ukraine ungebrochen, zweitens bleibe die internationale Unterstützung trotz aller Debatten groß, drittens sei Russlands Industrie immer noch nicht in der Lage, genügend moderne Waffen herzustellen und viertens lebe Putin in einer Informationsblase, in der er sich kein objektives Bild der Ereignisse machen und somit auch keine Fehler korrigieren könne. Moskaus Niederlage sei daher unausweichlich.
"Russlands Möglichkeiten liegen in seiner Schwäche"
Nun ist der in Shanghai und Peking lehrende Russland-Experte Feng Yujun seit Jahren ein ausgewiesener Kritiker des gegenwärtigen Kreml-Regimes. Insofern kann seine betont negative Einschätzung von Putins Kriegsaussichten niemanden überraschen. Immer wieder verwies Yujun seine chinesischen Landsleute bei Vorträgen darauf [externer Link], dass Russland in der Geschichte keineswegs die militärische Stärke gezeigt habe, die ihm gewöhnlich zugebilligt werde. Das gelte für den verlorenen Krimkrieg 1853/56 ebenso wie für den Krieg gegen Japan 1904 und den Ersten Weltkrieg.
Im Übrigen dominiere in Moskau traditionell ein "messianisches Erlösungsdenken", mit dem der Kreml die Eroberung neuer Territorien ideologisch verbrämt habe: "Russlands Möglichkeiten liegen in seiner Schwäche, nicht in seiner Stärke. Die russische Diplomatie kann keine nachhaltigen Erfolge sichern, aber die Verhältnisse jederzeit spontan umkehren und einen Überraschungssieg einfahren." In einem Interview mit einem russischen Nachrichtenportal hatte Yujun diese Ansichten am 1. April wiederholt und kritisiert, dass sich Putin und seine "alten Freunde" mit ihrer "Vetternwirtschaft" vor jedweder personellen Veränderung abgeschottet hätten.
Kolumnist Zujenko: "Kleines Loch für kleinen Auftrag"
Obwohl Feng Yujun seine russlandkritischen Standpunkte seit Jahren vertritt, wurde er in Russland jetzt herbe kritisiert. Ein Grund dafür: Putins Propagandisten scheinen sehr verunsichert, was die Unterstützung aus Peking betrifft.
So warnte Kolumnist Iwan Zujenko von der russischen Akademie der Wissenschaften zwar vor jedweder "Hysterie", was Yujuns hinlänglich bekanntes Russland-Bashing betreffe, fragte sich und seine Leser jedoch im gleichen Atemzug, warum der Politologe immer noch zum Beraterkreis der chinesischen Behörden gehöre: "Für China ist es wichtig, kein Risiko einzugehen und mit Russland, den USA und dem Rest der Menschheit gleichermaßen gut auszukommen."
Offenbar sei Yujuns Beitrag ausschließlich an ein amerikanisches Publikum gerichtet gewesen, was die inhaltliche "Aggressivität" erkläre: "Aber wenn Feng Yujun die Interessen der chinesischen Propaganda vertreten sollte, dann bohrt sich irgendjemand in hohen Ämtern möglicherweise gerade ein kleines Loch für einen kleinen Auftrag." Das dürfe den Kreml nicht überraschen: "Wollten wir nicht selbst zwar Freunde [Pekings] sein, aber Abstand halten? Oder glaubt irgendjemand, dass dieses Spiel nur von einer Seite bewerkstelligt werden kann?"
Kolumnistin: "Kein sehr professioneller Schatten"
Weniger diplomatisch äußerte sich der russische China-Kenner Nikolai Wawilow und mutmaßte, offenbar solle der bevorstehende Besuch Putins in Peking torpediert werden: "Das bereitet jemandem in Washington und London unerträgliche Kopfschmerzen, und sie heuern diejenigen an, die für einen Penny bereit sind zu singen und zu tanzen, allerdings in Maßen. Das Ziel der westlichen Politik besteht darin, das Vertrauen zwischen Verbündeten zu zerstören."
Feng Yujun wurde als "armer Irrer" bezeichnet ("Gott sei mit ihm"). Scharf ins Gericht ging Wawilow mit seinen russischen Kollegen, die den chinesischen Politologen 2020 in den renommierten Waldai-Klub eingeladen hatten, einem alljährlichen Diskussionsforum auf höchster Ebene: "Es gibt genug pro-russische Chinesen in China."
Die Kolumnistin Olga Bonch-Osmolowskaja bezeichnete Feng Yujuns Artikel despektierlich als "Gruß aus China" und verwies darauf, dass der Mann zu den hochrangigen Experten gehöre, die sich mit dem russisch-chinesischen Verhältnis beschäftigten: "Wie kommt es, dass Spezialisten mit solchen Ansichten zu ernsthaften Projekten und Teams eingeladen werden? Das wirft keinen sehr professionellen Schatten auf gemeinsame Projekte zwischen China und Russland und wirft generell Fragen zu den vom Autor bemühten Grundsätzen der 'gutnachbarschaftlichen Beziehungen' und auch zum Auftraggeber solcher Arbeiten auf."
Russischer Exil-Politologe: "In diesem Sinn Sieg nicht mehr erreichbar"
Der russische Exil-Politologe Anatoli Nesmijan bemerkte, der umstrittene Beitrag von Yujung habe "nicht die geringste Bedeutung", solange es sich um die Privatmeinung eines Gelehrten handle: "Wenn der besagte Professor den Standpunkt irgendeiner Gruppe in China vertritt, dann müssten wir herausbekommen, welche und warum. Ohne eine solche Klarstellung spielt der Inhalt der Stellungnahme des Professors keine Rolle." Darüber hinaus machte Nesmijan allerdings deutlich, dass Putin den Krieg in gewisser Weise tatsächlich bereits verloren habe, denn eines seiner erklärten Ziele sei gewesen, die NATO auf die Grenzen von 1997 zurückzudrängen: "In diesem Sinne ist ein Sieg nicht mehr erreichbar."
Aufschlussreich ist Nesmijans Analyse, China entscheide sich grundsätzlich höchst ungern zwischen zwei Alternativen und sei diesbezüglich eher mit einem Quantencomputer zu vergleichen, der gewissermaßen alles in der Schwebe lasse: "Deshalb wird China niemals jemandes Verbündeter sein, denn ein Bündnis setzt Konfrontation voraus – und genau die vermeiden die Chinesen stets. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum die vergleichsweise überschaubare Regierungszeit Maos mit ihrer kompromisslosen Gangart am Rande des Radikalismus die Chinesen geistig erschöpfte und sie gerne zu der ihnen von [Nachfolger] Deng Xiaoping vorgeschlagenen vertrauten Weltordnung zurückkehrten."
Russischer Ultra-Nationalist: "Politik ist wie Schach"
Der russische Ultra-Nationalist Igor Skurlatow machte sich derweil selbst Mut und behauptete, China werde sich "niemals" einer "vollständigen Blockade" Russlands anschließen, dazu sei es zu sehr auf die billigen russischen Rohstoffe angewiesen: "Politik ist wie Schach, der Ausgang des Kampfes ist für wenige sichtbar."
Allerdings beschleichen Putins Propagandisten bereits dunkle Ahnungen, was Chinas neue Einflussmöglichkeiten betrifft. So dämmert nicht wenigen russischen Bloggern, dass Moskaus Zugriff auf Zentralasien, darunter Kasachstan, auf Dauer geschwächt sein könnte, weil sich die ehemals sowjetischen Regionen derzeit beeilten, ihre Verbindungen zu Peking und Ankara zu festigen. Einen russischen Militäreinsatz wie in der Ukraine werde China in Kasachstan wohl kaum zulassen, so der in London lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow.
"Der Westen wird einen nach dem anderen schlagen"
Der eigentlich stramm auf Kremlkurs liegende "Politologe" Sergej Markow schrieb düster, der Westen sei von monolithischer Einigkeit, was für Russland, China und den Iran nicht in gleicher Weise gelte: "Ein in sich geschlossenes politisches und militärisches Bündnis wird sich gegenüber einem unverbindlicheren politischen Bündnis durchsetzen. Um zu gewinnen, wird das [westliche] Militärbündnis die Situation eskalieren und Konflikte provozieren. Der Westen wird die Teilnehmer der locker gefügten politischen Union einen nach dem anderen schlagen."
So diplomatisch und unverbindlich sich die Vertreter Chinas in Russland gewöhnlich auch ausdrücken, kürzlich verlor Pekings Generalkonsul im sibirischen Irkutsk doch etwas die Fassung: Der dortige Flughafen entspreche in etwa einem chinesischen Busbahnhof. Der Diplomat mahnte dringend die Anschaffung von Gepäckwagen und mehr Check-In-Schalter an. Nicht gerade als Kompliment für Putin zu verstehen.
"Aufgehen in der Natur"
Die russische Politikberaterin und langjährige Putin-Mitarbeiterin Maria Sergejewa machte aus diesem grotesken Anlass darauf aufmerksam, dass China zwar Russlands "strategischer Partner" sei, aber keineswegs ein "strategischer Verbündeter". Die Tonlage des chinesischen Generalkonsuls erinnerte sie an "arrogante" Westler, die einst die Russen darüber belehrt hätten, was modern sei: "Meiner Meinung nach liegt der Wert des Lebens in Russland nicht im hohen Urbanisierungsgrad mit mehrstöckigen Verkehrsknotenpunkten und Wolkenkratzern, sondern im Vorhandensein riesiger Reserven unberührter Natur, im Wasser, in Wäldern und in der Möglichkeit, ganz in der Natur aufzugehen und nicht im Betondschungel."
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