"Es ist für mich sehr schwierig, darüber offen zu sprechen", gesteht die Leiterin der Studie, María Leonor Pérez Ramírez. "Es geht um Skelette, es geht um Haarproben, es geht um Schädel. Diese Informationen so trocken auszuwerten und damit umzugehen, war für mich persönlich sehr schwierig."
Von April bis Oktober 2022 erhielt die Forscherin und stellvertretende Leiterin der Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten die Angaben von 33 Einrichtungen, welche menschlichen Überreste sich in ihren Sammlungen befinden.
Ergebnis: Mehr als 17.000 menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten lagern in den befragten Einrichtungen. Damit gibt es erstmals in Deutschland eine Übersicht über diese Sammlungen.
Hohe Dunkelziffer erwartet
Allerdings sind mehr als ein Drittel der übermittelten Daten als Überblick formuliert. Die genaue Anzahl der menschlichen Überreste aus kolonialen Kontexten kann daher auch über den angegebenen Schätzungen liegen. Schon allein deshalb, weil ein Skelett aus vielen Knochen besteht, erklärt Wiebke Arndt, Direktorin des Übersee-Museums Bremen.
Außerdem kämen "noch eine ganze Reihe menschlicher Überreste hinzu, die bearbeitet sind, in Kunstwerke eingearbeitet worden sind". Das sei in der Zahl noch nicht berücksichtigt. Arndt nennt als Beispiele Gürtel mit eingearbeiteten Haaren oder Schmuckstücke mit Zähnen und Knochen.
Rassistische Pseudowissenschaft der Kolonialzeit
Die Sammlungen sind aus heute fragwürdigen Gründen erstellt worden. Die Wissenschaftler der Kolonialzeit wollten nämlich herausfinden, ob es nicht rassisch begründete Unterschiede zwischen Menschen gibt, sagt Prof. Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder. Aus diesen Unterschieden wollte man ableiten, dass der "weiße" Mensch anderen Ethnien überlegen sei. "Ich glaube, dass das ganz wichtig ist, um zu verstehen, wie grauenhaft dieses Erbe ist in deutschen Sammlungen", so Hilgert.
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts versuchten Biologen, Anthropologen und Ethnologen, mithilfe verschiedener Messgrößen die Rassenkunde zu stützen. Der europäische Kolonialismus spielte eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der pseudowissenschaftlichen Rassentheorien.
Überreste oft nicht geografisch verortet
Fast die Hälfte der Überreste in deutschen Sammlungen können derzeit noch gar nicht geografisch zugeordnet werden. Die Mehrheit stammt nach derzeitigem Stand aus Afrika und Ozeanien, es befinden sich jedoch menschliche Überreste aus allen Kontinenten in den befragten Einrichtungen.
In 68 Prozent der Einrichtungen sind menschliche Überreste inventarisiert. Jedoch sind derzeit lediglich 48 Prozent digital erfasst. Durch die Art des Sammelns und die "vielleicht etwas sorglose Art des Aufbewahrens" seien viele Informationen nicht verfügbar, sagt Hilgert. Darüber hinaus seien in den Zeiten der beiden Weltkriege vermutlich viele Dokumentationen verloren gegangen.
Den Nachfahren ihre Vorfahren zurückgeben
Hauptaugenmerk der Studie sei aber nicht, auf eine lückenlose Dokumentation zu drängen, sondern die "Vorfahren den Nachfahren zurückzugeben", wie es Hilgert ausdrückt.
Die Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten bekommt unterschiedliche Anfragen, zum Beispiel aus Namibia oder Tansania. Da geht es darum, "zuzuhören, mit den Personen zu sprechen, die betroffen sind, die ihre Vorfahren nicht finden können, das ist sehr emotional", erzählt die Leiterin der Studie, María Leonor Pérez Ramírez.
Wie die Überreste einer Familie zuordnen?
Bereits bei 22 Einrichtungen habe es Rückführungsanfragen gegeben, in 20 Sammlungen seien bereits Rückgaben erfolgt. Für weitere Maßnahmen seien aber mehr Ressourcen erforderlich. Denn dafür ist nicht nur eine genaue Zuordnung zu einem Land oder einer Region vonnöten, sondern auch zu einer Familie.
Dafür sind laut Hilgert etwa DNA-Proben aus den Überresten nötig, was wiederum einen besonders ethischen Umgang erfordere. Denn: "Man wird nicht einfach auf deutscher Seite entscheiden können, dass man jetzt invasiv mit diesen menschlichen Überresten vorgeht."
Pérez Ramírez plädiert deshalb für eine verstärkte Kontaktaufnahme mit den Herkunftsgesellschaften, um eine angemessene Verfahrensweise zu finden – ein hochkomplexes Unterfangen.
Sensibilisierung: Das sind Menschen und keine Museumsobjekte
Seit 2013 gibt es einen Leitfaden des Deutschen Museumsbundes, wie mit diesem Thema und menschlichen Überresten in Sammlungen umgegangen werden soll. Die Umfrage von María Leonor Pérez Ramírez hat ebenfalls dazu beigetragen, die Sammlungen für das Thema zu sensibilisieren.
"Es beginnt mit der Rehumanisierung der menschlichen Überreste", sagt sie. "Das bedeutet die konsequente und vollständige Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um dabei um Menschen, um Vorfahren, und nicht um Objekte handelt."
Überreste nicht ausstellen, aber würdig aufbewahren
Ein erster Schritt wäre eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Vertreterinnen und Vertretern der Herkunftsländer. Auch in den Ausstellungsräumen und Archiven könnten bessere Lösungen angedacht werden, solange eine Repatriierung nicht möglich ist. "Sie können nicht ausgestellt werden", betont Pérez. Möglich wäre es aber beispielsweise, einen Raum in einem Museum einzurichten, der als Begegnungsstätte und Diskussionsplattform über dieses Thema genutzt wird.
Als Beispiel nennt die Forscherin das Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig, wo ein eigener Raum zur Reflexion eingerichtet wurde. Mit Hintergrundinformationen und Einordnungen – ohne Vitrinen mit menschlichen Überresten. Auch in den Archiven könnte eine besondere Aufbewahrungsart angedacht werden – getrennt von musealen Objekten, meint Hilgert.
Menschliche Überreste in München
Auch das Münchner "Museum Fünf Kontinente" hat menschliche Überreste in seiner Sammlung. Dabei handelt es sich nach Auskunft von Museumsdirektorin Uta Werlich vor allem um "nicht-skelettale Überreste, also zum Beispiel Haare und Zähne, die in kulturelle Zeugnisse eingearbeitet worden sind". Des Weiteren liegen circa 75 menschliche Überreste aus dem Bereich der Archäologie dort, wie mumifizierte Körperteile aus der Region des heutigen Kolumbien. Und auch mehr als 140 bearbeitete Schädel- und Skelettteile aus dem 18. bis 20. Jahrhundert liegen dort, wie übermodellierte Schädel oder Schrumpfköpfe.
Kuratorinnen und Kuratoren sowie Restauratorinnen und Restauratoren sind besonders geschult, was den Umgang mit diesen sensiblen Beständen angeht. Ausgestellt werden diese Bestände nicht mehr, sondern im Depot in eigens angefertigten Kartons aufbewahrt, getrennt von den übrigen Objekten der Sammlung. "Hier ist es ausschlaggebend, mit den Herkunftsgesellschaften, mit den Nachfahren der Verstorbenen ins Gespräch zu kommen und hier zu fragen: 'Was ist Eure Meinung, was wünscht Ihr Euch, wie gedenkt Ihr, dass wir mit diesen Themen umgehen sollen?' Und da berücksichtigen wir die Wünsche der Herkunftsgesellschaften."
Münchner "Museum Fünf Kontinente" übergab menschliche Überreste an Nachfahren
Bereits 2019 hat das Münchner "Museum Fünf Kontinente" im Rahmen einer Zeremonie zur Restitution die sterblichen Überreste eines indigenen Australiers, dem Yidinji Ancestral King, an die Yidindji people als Nachfahren des Mannes übergeben.
"Die Rückgabe des Ancestral King war für uns alle ein sehr bewegender Moment, weil man eben doch sehr deutlich spüren konnte, dass in diesem Moment, als die Nachfahren, die anwesenden Yidinji, den Leichnam übernommen haben, eine Rehumanisierung stattgefunden hat. Das hat uns alle sehr bewegt", erinnert sich Museumsdirektorin Werlich.
Forscher hatten die Leiche laut dem bayerischen Kunstministerium 1876 bei einer Bestattungszeremonie im Gebiet des heutigen Queenslands gestohlen. Möglicherweise wollten sie mit dem Verkauf die Expedition finanzieren. Auch der Leichnam der Ehefrau sei damals gestohlen, bis heute aber nicht entdeckt worden. Nach Museumsunterlagen wurde der Leichnam bis 1922 ausgestellt.
Schrumpfköpfe in Privatbesitz
Auch heute werden dem Museum immer wieder menschliche Überreste aus Privatbesitz angeboten, die einst als "Souvenirs" nach Deutschland kamen, wie Schrumpfköpfe aus Südamerika, erzählt Werlich. Sogar in Schulen gibt es laut Hilgert noch "menschliche Überreste, anhand derer man versucht hat, anatomische Gegebenheiten zu erläutern". Teilweise stammten diese menschlichen Überreste aus kolonialen Kontexten.
Die Sammler hätten damals nicht begriffen, dass es sich um Menschen handelte und nicht um museale Objekte – teilweise bis heute, sagt Hilgert. Die Münchner Museumsdirektorin Uta Werlich wünscht sich deshalb von der Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten eine Art Leitfaden, wie mit solchen Anfragen an Museen und Sammlungen umgegangen werden soll.
"Jetzt haben wir die Chance, es besser zu machen"
Die Leiterin der Studie, María Leonor Pérez Ramírez, setzt darauf, dass die deutschen Museen nach dem in der Vergangenheit fragwürdigen Umgang es heute besser machen. Sie selbst kommt aus Kolumbien und kommt immer wieder auch in Kontakt mit menschlichen Überresten aus ihrer Heimat: "Ich weiß nicht, ob es sich um meine Vorfahren handelt oder nicht", sagt sie. "Das würde ich gerne auch wissen. Natürlich habe ich eine Sympathie für die Personen."
Und Hilgert regt an: "Wenn wir uns selbst vergegenwärtigen, wie wir uns fühlen würden, wenn unsere Großmütter, unsere Großväter in Einzelteilen in Museen lagern würden, weit, weit weg von Deutschland, dann verstehen wir, wie schmerzhaft dieses Thema ist." Sein Filmtipp, um sich dem Thema zu nähern und eine Vorstellung der kolonialen Gräueltaten zu bekommen: "Der vermessene Mensch" von Lars Kraume.
Im Video: Was ist kulturelle Aneignung?
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