Schilder mit Aufschrift «Streik für mehr Lohn» stehen bei der Hauptkundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
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Tarifautonomie: Der Staat darf sich in das Geschäft von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nicht einmischen.

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Tarifautonomie im Grundgesetz: Schutz oder Hindernis?

Die vielen Streiks und Arbeitsniederlegungen haben uns Deutsche in den vergangenen Monaten Nerven gekostet. Manche haben gefordert, der Staat solle eingreifen. Allerdings gilt Tarifautonomie in der Wirtschaft. Was bedeutet das? Wie weit geht sie?

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Kein Zug rollt, der Flieger bleibt am Boden, Operationen müssen verschoben werden, Eltern stehen mit Nachwuchs vor verschlossenen Türen der Kita. Und das alles, weil sich auch nach mehreren Treffen die zuständigen Gewerkschaften mit den Arbeitgebern nicht einigen können. Manche haben zuletzt beim Streik der Lokführergewerkschaft GDL gefordert, der Staat solle ein Machtwort reden. Das allerdings geht nicht. Denn im Grundgesetz ist die "Tarifautonomie" verankert.

"Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet." Grundgesetz Artikel 9 Absatz 3

Diese sogenannte Koalitionsfreiheit darf nicht eingeschränkt werden, auch nicht von den jeweils Regierenden. Das gilt ebenfalls für Arbeitskämpfe. Die sind in Satz drei des Artikels 9 ausdrücklich geschützt, wenn sie auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind.

Die Vorteile der Tarifautonomie

75 Jahre Grundgesetz feiern der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BdA) in einer gemeinsamen Erklärung. Die darin garantierte Tarifautonomie bringt beiden Seiten am Verhandlungstisch Vorteile. Für Beschäftigte erleichtert es das Leben: Allein – mit einem neuen Chef über das Einkommen zu verhandeln, ist nicht unbedingt einfach. Zudem würde es die ungleiche Behandlung der einzelnen Beschäftigten fördern. Wer besser verhandeln kann, bekomme dann mehr, argumentieren die Gewerkschaften.

Aber auch die Arbeitgeberverbände haben sich bisher ausdrücklich für die Tarifautonomie ausgesprochen. Für alle, die in einer Branche nach Tarif bezahlen, gelten gleiche Konditionen. Das unterbindet in der Hinsicht den Wettbewerb der Unternehmen.

Die Nachteile der Tarifautonomie

Wenn sich aber Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften lange nicht einigen und es zu Streiks kommt, kann das das öffentliche Leben teilweise über Wochen und Monate immer wieder lahmlegen. Die Folgen etwa im Bahn-, Lastwagen- oder Flugbereich: Menschen kommen nicht zur Arbeit, wegen fehlender Teile stehen Bänder still. Die Wirtschaft wird insgesamt geschädigt. Außer Appellen bleibt der Politik aber keine Handhabe. Dennoch gibt es Bereiche, wo der Staat in die Tarifautonomie eingreift.

Der Staat als Regulator: Beispiel Mindestlohn

Ganz heraushalten muss sich der Staat nämlich nicht, wenn es um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geht. Er hat eine gewisse Schutzfunktion: Schutzgesetze für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt es, die Arbeitszeiten regeln oder Urlaubstage zur Erholung vorschreiben. Diese sind Mindeststandards. Darunter geht nichts, darüber allerdings schon.

Besonders umstritten war die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015. Dieser wurde mit 8,50 Euro einseitig vom Staat festgesetzt. Expertinnen und Experten war bewusst, dass dies ein Problem mit der Tarifautonomie darstellt. Darum wurde eine sogenannte "Mindestlohnkommission" gegründet.

Das Gremium setzt sich aus je drei Vertreterinnen und Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zusammen und berät alle zwei Jahre darüber, ob der Mindestlohn noch angemessen ist. Die Regierung kann den Vorschlag dann umsetzen. Die Ampelregierung hat trotzdem noch einmal nachgelegt und 2022 den Mindestlohn auf 12 Euro angehoben und danach die Kommission entscheiden lassen. Und gerade erst hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dafür plädiert, den Mindestlohn auf 15 Euro pro Stunde zu erhöhen.

Gewerkschaft oder Arbeitgeberverband? Beschäftigte und Unternehmen müssen nicht Mitglied sein

Rein praktisch räumt das Grundgesetz jedem ein, sich in Gewerkschaften oder in Verbänden zu organisieren. Diese verhandeln dann in Stellvertretung ihrer Mitglieder, wie hoch das Einkommen ist, wie lange dafür gearbeitet werden soll, wie viel Urlaub gewährt wird oder ob für bestimmte Tätigkeiten Zuschläge anfallen. Am Ende steht dann ein Tarifvertrag. Der wird unterschrieben von den Sozialpartnern, die ihn ausgehandelt haben und gilt nur für die, die organisiert sind.

Natürlich können sich Mitarbeitende oder Unternehmen gegen eine Mitgliedschaft entscheiden und für sich alleine Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen aushandeln. Dieses Recht heißt dann "negative Koalitionsfreiheit". Auch dafür steht Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz.

Die meisten Betriebe behandeln meist Gewerkschafts-Mitglieder und Nicht-Mitglieder gleich. Sie wollen damit erreichen, dass nicht noch mehr ihrer Beschäftigten einer Gewerkschaft beitreten. Es gelte, die negative Koalitionsfreiheit zu garantieren, so das Argument. Den Gewerkschaften ist das ein Dorn im Auge: Warum sollte jemand ihrer Organisation beitreten und Beitrag zahlen, wenn er auch so in den Genuss der Tarifabschlüsse kommt.

Wissenschaft: Tarifautonomie sorgt für weniger Streiks

Das sozialpartnerschaftliche Modell in Deutschland ist nicht unumstritten. Allerdings hat es laut Wissenschaftlern mit dafür gesorgt, dass die Bundesrepublik vor allzu vielen und größeren Streiks verschont blieb. Eine Regierung könnte – so die Befürchtung – mit einem Lohndiktat auch ihre Wählerschaft im Kopf haben.

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