Wer die Debatten um TikTok in den USA verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen: Das ist die gefährlichste App der Welt, ein Machtwerkzeug Chinas. Die Daten von Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern seien gefährdet, und Chinas Regierung könnte auch die öffentliche Meinung beeinflussen.
Die USA verbieten TikTok – wenn das chinesische Unternehmen Bytedance die App nicht verkauft. Dieser TikTok-Ban ist eines der wenigen, wenn nicht gar das einzige politische Vorhaben, bei dem Demokraten und Republikaner zusammengearbeitet haben. Der innenpolitische Streit zwischen den beiden Parteien hat zum Beispiel lange Zeit Militärhilfen für die Ukraine und Israel blockiert.
TikTok ist nicht der erste Fall, bei dem die USA hart gegen China vorgehen. In der jüngeren Vergangenheit beschränkte Washington etwa die Exporte für Mikrochips und förderte gleichzeitig mit dem sogenannten CHIPS and Science Act die Forschung und Herstellung von Halbleitern in den Vereinigten Staaten. Die US-Regierung hat ebenfalls umfangreiche Sanktionen gegen Huawei verhängt, so wird dem Konzern der Zugang zu Chips aus internationaler Produktion und zum amerikanischen Betriebssystem Android verwehrt.
Von einem Chip-Krieg spricht der US-Historiker Chris Miller in seinem gleichnamigen Buch. Er schreibt: Im 20. Jahrhundert war die Stahlproduktion Grundlage militärischer und politischer Macht, im 21. Jahrhundert sind es Halbleiter.
"Das muss nicht Krieg bedeuten, aber das ist eine Option"
Die Befürchtung: Gerade durch den Technologie-Wettstreit zwischen den USA und China könnte das ohnehin angespannte Verhältnis eskalieren. Zumal 90 Prozent der fortschrittlichsten Mikrochips Taiwan produziert. China sieht das Land als eigenes Staatsgebiet an und droht der demokratisch regierten Insel immer wieder mit militärischer Gewalt. Jacob Gunter, Lead Analyst Economy am Mercator Institute for China Studies (MERICS), macht im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) deutlich: "Auf dem Weg zur Weltmacht Nummer eins wird China in Konflikt mit den USA und ihren Verbündeten geraten. Das muss nicht Krieg bedeuten, aber das ist eine Option."
TikTok, Temu, Huawei & Co.: Trojanische Pferde aus China?
TikTok ist nicht das einzige chinesische Unternehmen, das wächst und Datenschützer und Geheimdienste gleichermaßen besorgt: Die Shopping-Apps Temu und Shein sollen angeblich deutlich mehr Daten als nötig abgreifen. Der chinesische Batteriehersteller CATL beherrscht den weltweiten Markt für Elektroauto-Akkus. Longi ist der weltgrößte Solarzellenproduzent und kommt ebenfalls aus China. Anfang des Jahres kam die Meldung, dass das erste Mal überhaupt der chinesische Elektroautobauer BYD mehr E-Autos verkauft hat als sein US-Konkurrent Tesla.
Huawei war zeitweise schon Smartphone-Weltmarktführer – bis zu den Sanktionen der USA. Huawei macht aber nicht nur Smartphones, die Deutsche Bahn zum Beispiel hat auch Huawei-Technik verbaut. Huawei-Technik steckt auch in unserem 5G-Netz. Diese Technik steht im Verdacht, Daten abzugreifen und an die chinesische Regierung zu übermitteln. Beweise, dass China die Daten wirklich für seine Zwecke missbraucht, gibt es bislang nicht.
Antispionagegesetz verstärkt das Misstrauen
Konkreter Anlass für das Misstrauen der Expertinnen und Experten beim Blick auf chinesische Technik ist das Antispionagegesetz, das 2023 in China in Kraft getreten ist und dem chinesischen Staat weitreichende Befugnisse gibt. Nach Artikel 7 dieses Gesetzes sollen alle Organisationen und Bürger die Geheimdienstbehörden entsprechend dem Gesetz unterstützen.
Zudem können die Chinesen von der Regierung zur Kooperation verpflichtet werden – etwa indem sie gesammelte Daten weitergeben. Genau das ist die Angst, die Washington vor TikTok hat. "Es geht China unter Xi Jinping ganz klar darum, eine Supermacht zu werden, die in der internationalen Ordnung einfach einen Platz einnimmt", sagt China-Expertin Nadine Godehardt im BR24-Interview.
Im Video: TikTok, Temu, Huawei: Will China mit Technologie die Welt erobern? Possoch klärt!
Chinas neuer Imperialismus
Godehardt erläutert, worin der Unterschied zwischen der Supermacht USA und der etwaigen Supermacht China liegt: "Das, was wir hier sehen, ist etwas anderes als ein neuer Hegemon, China ist kein klassischer Hegemon, so wie wir das erlebt haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in dieser Logik funktioniert China in meinen Augen nicht, weshalb ich in meiner eigenen Forschung mittlerweile davon spreche, dass wir es hier vielleicht wirklich mit einer neuen Art von Imperialität zu tun haben, die uns wirklich herausfordert, weil es eben bedeutet, dass wir durch unsere Aktivitäten das Regime in China in keinster Weise beeinflussen können."
Dass die Strategie "Wandel durch Handel" nicht aufgeht, hat Deutschland zuletzt gegenüber Russland erfahren müssen. Die Bundesregierung ist sich der Gefahr bewusst und hat letztes Jahr erstmals eine eigene Strategie für den Umgang mit China beschlossen. Sie betont sowohl den Willen zur Zusammenarbeit als auch die gewachsenen Differenzen mit der kommunistischen Führung in Beijing. Die Bundesregierung will deshalb "De-Risking" betreiben, also die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von China verringern.
"Ohne China kommt die Depression"
China war 2023 Deutschlands wichtigster Handelspartner – zum achten Mal in Folge. Die beiden Länder haben im vergangenen Jahr Waren im Wert von 254,4 Milliarden Euro gehandelt. Für Nadine Godehardt bleibt die China-Strategie daher ein reines Lippenbekenntnis: "Wir haben lange über die China-Strategie debattiert, dann kam sie raus – und plötzlich ist Scholz wieder nach China geflogen und man hatte den Eindruck, es hat sich nicht richtig viel verändert, und das ist etwas, das jetzt nicht passieren darf."
Es bedürfe einer weiteren Debatte, um den richtigen Umgang mit China "auf jeder politischen Ebene", sagt Godehardt. Wenn Deutschland zur Erkenntnis gelangt, dass China eine Bedrohung ist, löse das die Bedrohung schließlich nicht einfach auf. Eine Studie des Kiel Institut für Weltwirtschaftsforschung hat simuliert, was es für Deutschland bedeutet, wenn die Handelsbeziehungen zu China eingestellt und alle Produkte stattdessen aus anderen Ländern bezogen würden. Die Studie kam zum Ergebnis, dass das Bruttoinlandsprodukt dann um fünf Prozent einbräche.
Ein "Decoupling" von China hätte laut Jacob Gunter von MERICS weltweite Konsequenzen:
"Eine wirtschaftliche Abkoppelung von China würde eine Weltwirtschaftskrise verursachen und uns über Nacht in eine neue Große Depression werfen." Jacob Gunter, Lead Analyst Economy am Mercator Institute for China Studies
Chinas Wirtschaftspolitik ist eine immense Herausforderung für den Rest der Welt. Die USA haben sich für den harten Weg entschieden und etwa jüngst die Zölle auf Elektroautos, Halbleiter und andere Produkte aus China auf 100 Prozent erhöht.
USA vs China: Droht ein deindustrialisiertes Europa?
"Ich glaube, aktuell bewegt sich Europa zu wenig, um mit den Veränderungen, die wir von China sehen, klarzukommen", sagt Gunter. Der europäischen Öffentlichkeit sei noch zu wenig klar, was ein weiteres "De-Risking" von China bedeute: "Irgendjemand wird die Rechnung dafür zahlen müssen und das werden letzten Endes die Bürger Europas sein; entweder durch Steuern, um das 'De-Risking' zu finanzieren oder durch gestiegene Waren- und Lebenshaltungskosten. Und am Ende werden wir ein Europa haben, das deindustrialisiert ist und eine ausgehöhlte Mittelschicht hat und die ist der Kern deutscher Wettbewerbsfähigkeit und der deutschen Wirtschaft."
Es steht also viel auf dem Spiel. Rolf Langhammer, Forschungsmitarbeiter am Kiel Institut für Weltwirtschaft, setzt einen anderen Akzent. Im BR24-Interview macht er deutlich, dass Europa in den 1990er Jahren Angst hatte, von Japan wirtschaftlich "überrollt" zu werden: "Davon spricht heute keiner mehr." China habe enorme Überkapazitäten bei Gütern, die alle hochsubventioniert seien, speziell E-Autos, "aber wenn die ihnen keiner abkauft, wo soll China dann hin?".
Die USA haben die Märkte zugemacht, die europäischen Märkte seien noch offen. Aber wenn die EU ähnlich handle, "dann ist für China der Weg zur Weltmacht versperrt", sagt Langhammer.
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