"Der Höhepunkt der Omikron-Welle ist überschritten – ziemlich genau an dem Tag, den ich vor einem Monat vorausgesagt hatte." So äußerte sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in der "Bild". Seit ein paar Tagen sinken die Zahlen der Corona-Neuinfektionen in Deutschland und damit auch die Sieben-Tage-Inzidenz – erstmals seit Dezember. Jetzt werden die Rufe nach Lockerungen und Öffnungsschritten lauter. Aber kommen sie zu zeitig? Welche Aussagekraft hat die Sieben-Tage-Inzidenz noch?
Lage auf den Intensivstationen
Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie ist der Meinung, man müsste sich die Zahlen eine Woche lang anschauen, um sicher sagen zu können, ob die Omikron-Welle wirklich gebrochen ist. Das Gesundheitssystem sei derzeit nicht über-, aber weiterhin stark belastet. Ein ähnliches Bild zeichnet die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG): In den vergangenen Wellen wäre etwa ein Viertel der im Krankenhaus behandelten Corona-Patienten auf der Intensivstation gewesen. Derzeit befinden sich aber 87 Prozent der Covid-infizierten Patienten auf der Normalstation. Daher rechne die DKG mit einem Maximum von 3.000 Patienten auf der Intensivstation, derzeit sind es knapp 2.500. Zum Vergleich: In der zweiten Welle im Dezember 2020 lag diese Zahl bei über 5.700.
Die Belastung der Intensivstationen zeigt sich immer mit ein paar Wochen Verzug zum Infektionsgeschehen. Der wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, erklärt, dass momentan täglich 200 Menschen neu auf die Intensivstation kommen. Allerdings wäre der Anstieg nicht mehr so stark, so dass es erste Tendenzen gibt, dass sich ein Plateau einstellt. Was auch daran liegt, dass die Omikron-Variante zwar sehr viel ansteckender, aber weniger gefährlich als Delta ist.
- Zum Artikel: Omikron: Wie schlimm ist ein milder Verlauf?
Rückläufige Positiv-Rate bei PCR-Tests
Auch auf Seiten der Labore gibt es vorsichtige positive Neuigkeiten: Erstmals seit Jahresbeginn seien laut dem Verband Akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) die Anzahl der durchgeführten Tests als auch die Positiv-Rate in der Woche bis zum 13. Februar rückläufig gewesen. Im Vergleich zur Vorwoche wurden vier Prozent weniger PCR-Tests durchgeführt. Mit 43,9 Prozent liegt die Positiv-Rate, also die Anzahl positiver Test-Ergebnisse aller Proben, leicht unter dem Vorwochenniveau von 45,1 Prozent. Jedoch weist der ALM darauf hin, dass es regional sehr große Unterschiede gibt. In einigen Bundesländern fällt noch über die Hälfte aller PCR-Tests positiv aus und die Labore arbeiten an der Auslastungsgrenze, obwohl die Testkapazitäten bundesweit nochmal leicht gesteigert werden konnten.
Datenlage zu Neuinfektionen unsicher
Nun stellt sich die Frage: Lassen sich weniger Menschen testen, weil die Infektionen insgesamt und damit auch symptomatische Erkrankungen zurückgehen? Oder weil vergangene Woche die PCR-Tests weiter priorisiert wurden und beispielsweise eine rote Warnung in der Corona-Warn-App nicht mehr ausreicht, um sich kostenlos PCR-testen zu lassen? Werden dadurch weniger Infektionen erkannt? Experten gehen davon aus, dass die Datenlage derzeit sehr unsicher ist, asymptomatische Infektionen schlechter in die Meldezahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) einfließen.
Meldeverzug und fehlende Kontaktnachverfolgung
Da in vielen Städten und Kreisen die Gesundheitsämter seit Monaten überlastet sind, kommt es vielerorts zum Meldeverzug von Infektionszahlen. Zwar können sich vom Gesundheitsamt benachrichtigte Kontaktpersonen noch kostenlos PCR-testen lassen, nur werden diese Kontakte immer seltener zuverlässig und rechtzeitig verfolgt beziehungsweise gewarnt. Und seitdem die Warnung in der Corona-Warn-App nicht mehr für einen kostenfreien PCR-Test ausreicht, fallen vor allem asymptomatische Infektionen aus der Statistik.
Zudem wird davon ausgegangen, dass nicht mehr alle Menschen, die einen positiven Schnelltest haben, diesen mit einem PCR-Test bestätigen lassen. Auch diese Infektionen fallen nicht in die Statistik der RKI-Infektionszahlen. Gleichzeitig stehen die Schnelltests in der Kritik, weil viele von ihnen nicht zuverlässig die Omikron-Variante erkennen – vor allem, wenn die Viruslast noch nicht so hoch ist. Auch hierbei könnten Infektionen übersehen werden.
- Zur Übersicht: Wie gut und sicher sind Corona-Schnelltests bei Omikron?
Sättigungseffekt bei Virusverbreitung
Bioinformatiker Lars Kaderali sieht noch einen anderen Grund für den Rückgang der Inzidenzen: Seiner Meinung nach stellt sich gerade eine Art "Sättigungseffekt" ein. Denn Kontaktnetzwerke seien endlich und das Virus hat es immer schwerer mit der steigenden Zahl von Genesenen noch neue Empfänger zu finden. Was vor allem daran liegt, dass mit den momentan geltenden Regelungen viele Kontakte eingeschränkt sind. Daher weist er darauf hin, dass mit zu frühen Lockerungen diese Kontaktnetzwerke wieder größer werden und sich das Virus wieder besser ausbreiten könnte. "Der Sättigungseffekt kann also ein Stück weit wieder wegfallen", warnt der Wissenschaftler. Erst im April könne man wieder sicher von einem "ruhigeren Fahrwasser" ausgehen, da dann saisonale Effekte wie warmes Wetter hinzukommen, was die Virusausbreitung bremst.
Vorsicht bei Lockerungen und Subtyp
Auch der Epidemiologe Hajo Zeeb warnt vor zu frühen Lockerungen. In Dänemark hätte man gesehen, dass die Zahlen nach kurzer Pause wieder in die Höhe geschossen sind. Zusätzlich kann bisher schlecht eingeschätzt werden, welche Rolle zukünftig die Omikron-Untervariante BA.2 in Deutschland spielt. Bei ihr wird davon ausgegangen, dass sie noch leichter übertragbar ist als der momentan überwiegende Subtyp BA.1. Der Immunologe Carsten Watzl von der Universität Dortmund warnt davor, dass BA.2 die Omikron-Welle noch verlängern könnte.
Rückgang echt, aber regionale Unterschiede
Die Virologin Sandra Ciesek, Leiterin der Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, erklärt im Podcast Coronavirus-Update des NDR vom 15. Februar, dass sie glaubt, dass der rückläufige Trend der Zahlen echt ist. Das sei vor allem bei anlasslosen Tests zu beobachten, also im Klinikum oder in der Schule, wo ständig getestet wird. Auch dabei würden die Infektionszahlen zurückgehen. Allerdings spielen hier regionale Unterschiede eine große Rolle. Während die Sieben-Tage-Inzidenz am 16. Februar in Schleswig-Holstein bei vergleichsweise niedrigen 756,1 lag, war sie in Brandenburg mit 1.767,8 am höchsten.
Unsicher, wie sich Lockerungen auswirken
Wie sich die Corona-Neuinfektionen entwickeln werden, wird sich wohl nach den ersten Lockerungsschritten zeigen, die beim aktuellen Bund-Länder-Treffen beschlossen wurden. Dann kann abgeschätzt werden, ob die Omikron-Welle wirklich gebrochen ist oder nur verschiedenste Faktoren dazu beitragen, dass nicht mehr alle Fälle registriert werden und in dessen Folge die Sieben-Tage-Inzidenz sinkt.
Psychologisch gesehen hält Virologin Ciesek die Lockerungen für sehr wichtig, warnt aber davor, sofort alles aufzuheben, da es dann auch länger dauert, bis die Inzidenzen wieder sinken. Auch zum Schutz für diejenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können oder für die noch kein Impfstoff zugelassen ist.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!