Darum geht's:
- Dass es Kipppunkte gibt, bestätigen alle Experten, mit denen der Faktenfuchs gesprochen hat. Die Erdgeschichte zeige: Elemente im Erdklima können sich abrupt und unumkehrbar ändern.
- Bezogen auf die Gegenwart sind allerdings Fragen offen, zum Beispiel: In welcher Region wird welcher Kipppunkt überschritten? Wann? Bei welcher Erwärmung?
- Für einzelne mögliche Kipppunkte gibt der Weltklimarat Wahrscheinlichkeiten an. Ihm zufolge werden zum Beispiel große Teile des westantarktischen Eisschilds bei steigenden Temperaturen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit abrupt und unumkehrbar abschmelzen.
Klimawissenschaftler erklären Kipppunkte gerne anhand von Metaphern wie dieser: Ein Kind kippelt mit dem Stuhl. Erst passiert nichts, doch dann lehnt es sich nur einen Millimeter zu weit nach hinten - und plötzlich kippt der Stuhl mitsamt Kind um.
Auch Teile des Klimasystems können kippen, wenn sie einen bestimmten Punkt überschreiten. Wissenschaftler befürchten, dass aufgrund der Klimaerwärmung etwa der Amazonas-Regenwald absterben oder der grönländische Eisschild abschmelzen könnte. Beide haben eine wichtige Funktion für das Klima. Doch im Gegensatz zu einem Stuhl ließen sie sich nach dem Kippen nicht wieder aufstellen.
Diskussion auf "X" über Kipppunkte
Der Wissenschaftsjournalist Axel Bojanowski kritisierte im Juni in einer Talkshow eines österreichischen Privatsenders die Aussage, dass wir bereits an den Kipppunkten wären. Er sagte: "Es ist nicht richtig zu sagen, wir wären jetzt an den Kipppunkten. Also das kann man so behaupten, aber das (...) ist nicht der Sachstand. Der Sachstand sagt (...): Es könnte Kipppunkte geben. Ob die heraufziehen, dafür gibt es keine Evidenz. Wir müssen mehr forschen." Dabei bezog er sich auch auf den Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC.
Auf der Plattform X widersprachen viele Nutzer dieser Aussage - unter anderem Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Er warf Bojanowski vor, er verharmlose Kipppunkte. Einige andere Nutzer stellten sich auf Bojanowskis Seite. Doch was weiß die Wissenschaft tatsächlich über Kipppunkte - und was nicht? Der #Faktenfuchs hat recherchiert wie der Forschungsstand ist und mit Klimaforschern gesprochen.
Experten bestätigen: Kipppunkte gibt es
Klar ist: Dass es Kipppunkte grundsätzlich gibt, darüber sind sich die Klimawissenschaftler, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, einig. Darauf weisen Daten aus der Erforschung der Erdgeschichte hin, so steht es auch im aktuellen Bericht des Weltklimarats IPCC (externer Link). Bojanowski schreibt dazu auf #Faktenfuchs-Anfrage, der IPCC werde niemals feststellen können, dass es sicher Kipppunkte gibt, dafür sei die Konstruktion von Wissen in der Paläoklimatologie zu unsicher.
Der #Faktenfuchs hat mit mehreren Experten gesprochen, die in Bezug auf Kipppunkte unterschiedliche Positionen innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft einnehmen. Manche von ihnen kritisieren einen zu starken Fokus in der Klimadebatte auf Kipppunkte und weisen auf Forschungslücken hin, andere schreiben diesen Kipppunkten eine große Relevanz zu. Doch sie alle bestätigten dem #Faktenfuchs: Es gibt Elemente im Klimasystem der Erde, die kippen könnten.
- Wie belastbare Fakten zum Klimawandel entstehen, können Sie in diesem #Faktenfuchs-Artikel lesen.
Auch über die grundlegenden Erkenntnisse über den menschengemachten Klimawandel sind sie sich einig. Doch es gibt noch viele offene Fragen. Etwa, welche Kipppunkte es gibt und wann sie jeweils eintreten könnten. Darüber gibt es in der Forschung unterschiedliche Ansichten. Dazu später mehr.
Kipppunkt in der Westantarktis ist wahrscheinlich
Richtig ist aber: Kein Element im Klimasystem der Erde wird mit absoluter Gewissheit einen Kipppunkt überschreiten. Klimawissenschaftler können lediglich Wahrscheinlichkeiten über mögliche Entwicklungen einzelner Elemente im Klimasystem der Erde treffen. Darauf bezieht sich auch Axel Bojanowski, als er auf #Faktenfuchs-Anfrage per Mail schreibt: "Unsicherheiten sind in der Klimaforschung ganz normal und unvermeidlich."
Auch Klimaforscher, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, bestätigen, dass man in der Klimaforschung häufig keine absolute Gewissheit habe - abgesehen von grundlegenden Erkenntnissen wie der, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt.
Bojanowski schreibt außerdem: "Wichtig ist, die Unsicherheiten-Kommunikation des IPCC, der Kipppunkte-Forscher und von mir nicht mit Beschwichtigung zu verwechseln. (...) Man sollte das menschengemachte Experiment besser nicht ausreizen, man weiß kaum, was geschehen könnte – das halte ich für problematisch genug."
Trotz dieser Unsicherheiten gibt es Hinweise darauf , dass Kipppunkte aufziehen. So geht der Weltklimarat IPCC beim westantarktischen Eisschild davon aus, dass er mit einer hohen Wahrscheinlichkeit abrupt und unumkehrbar große Eismassen verlieren könne (externer Link), wenn sich die Erde weiter erwärmt. Mit einer mittleren Wahrscheinlichkeit werde sie zwischen 1,5 Grad und zwei Grad Erwärmung einen Kipppunkt überschreiten (externer Link).
Der Weltklimarat kam zu dieser Einschätzung, indem er Modellrechnungen aus Studien über den westantarktischen Eisschild ausgewertet hat. Das heißt auch: Würden große Teile der Westantarktis bei zwei Grad Erwärmung abrupt und unumkehrbar abschmelzen, könnte die Menschheit das noch verhindern - nämlich, indem sie die weltweiten Treibhausgas-Emissionen so weit senkt, dass die globale Erwärmung unter zwei Grad bleibt.
💡 Was ist der Weltklimarat?
Im Weltklimarat IPCC fassen Klimawissenschaftler aus der ganzen Welt in regelmäßigen Abständen den Stand der Forschung zum menschengemachten Klimawandel zusammen. Die Sachstandsberichte dienen als Referenzrahmen für die internationale Klimapolitik. Auch in der Klimawissenschaft und in den Medien erfahren sie große Beachtung.
Es ist charakteristisch für IPCC-Berichte, dass jede Aussage den Zusatz hat, wie wahrscheinlich es ist, dass sie zutrifft. Das basiert auf einem System von Begrifflichkeiten, die jeweils anzeigen, wie gut belegt eine Aussage ist. Steht beispielsweise hinter einer Aussage "hohes Vertrauen" bedeutet das, sie ist in etwa acht von zehn Fällen richtig. Gerrit Lohmann vom Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung sagt: "Die IPCC-Reports sind eher vorsichtiger geschrieben. Man möchte sich da wirklich völlig absichern."
Latif: "Das Erdsystem ist extrem komplex"
Mojib Latif vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung geht davon aus, dass die Westantarktis einen Kipppunkt besitzt. Würde die Westantarktis komplett abschmelzen, hätte das einen globalen Meeresspiegelanstieg von etwas mehr als drei Metern zur Folge, so Latif.
Bei den meisten möglichen Kipppunkte gibt es aber Unsicherheit darüber, ob und wann sie eintreten könnten, das geht auch aus dem Bericht des IPCC hervor (externer Link). Mojib Latif vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, sagt: "Ich werde nicht müde zu sagen: Das Erdsystem ist extrem komplex und es ist ein Stück weit unberechenbar." Das habe auch damit zu tun, dass man es bei Kipppunkten mit "hochgradig nichtlinearen Prozessen zu tun" habe, so Latif. "Die entziehen sich einfach ein Stück weit unserem Verständnis". Auch darum ist vieles in der Erforschung von Kipppunkten in der Wissenschaft noch umstritten.
Hat die Golfstromzirkulation einen Kipppunkt?
Am Beispiel der atlantischen Umwälzbewegung wird das besonders deutlich. Mojib Latif sagt: "Alle Modelle zeigen unisono, dass die Zirkulation langsamer werden wird." Doch hat sie damit auch einen Kipppunkt? Darüber sind sich die Experten nicht einig.
Die atlantische Umwälzbewegung wird auch Golfstromzirkulation genannt, da der Golfstrom ein Teil davon ist. Die Golfstromzirkulation transportiert Wasser vom Südatlantik in den Nordatlantik. Auf dem Weg kühlen sich die Wassermassen ab - bis sie in mehrere tausend Meter Tiefe absinken. "Das ist ein gigantischer Wasserfall", verbildlicht Mojib Latif. In den Tiefen des Ozeans strömt das Wasser dann wieder in den Südatlantik. Dieses Strömungssystem sorgt unter anderem dafür, dass wir in Westeuropa für unsere Breiten relativ milde Temperaturen haben.
Levke Caesar vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sagt: Steigen die Temperaturen immer weiter, überschreite die atlantische Umwälzzirkulation irgendwann einen Kipppunkt. "Dieses Verhalten, dass das Strömungssystem instabil wird und sich in Folge dessen stark abschwächt, wurde in verschiedenen Klimamodellen unterschiedlicher Auflösung gezeigt", sagt sie. Dass die Golfstromzirkulation kippen kann, wisse man außerdem aus mathematischen Modellen und aus Daten aus der Erdgeschichte, zum Beispiel aus Ozeansedimenten, Eisbohrkernen oder Baumringen.
💡 Was sind Klimamodelle?
Klimamodelle sind auf großen Datenmengen basierende Berechnungen - sie versuchen, mögliche Entwicklungen mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen. Sie sind überprüfbar und wiederholbar - und liefern methodisch gut gemachte Hinweise.
Klimaforschung im Komplexitätsdilemma
Auch Gerrit Lohmann vom Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung sagt, dass es geologische Daten gebe, die belegen, dass die Golfstromzirkulation sich in der Erdgeschichte schon einmal abrupt abgeschwächt habe.
Doch er weist darauf hin, dass viele Projektionen über die Zukunft der Golfstromzirkulation große Unsicherheiten haben: "Die meisten berechnen die Zirkulation in der Vergangenheit oder Zukunft, und sagen dann etwas über das wahrscheinlichste Szenario." Lohmann hingegen betont, dass man alle möglichen Szenarien gleichzeitig beleuchten müsse. Solche Modelle seien zwar genauer - dafür aber auch deutlich aufwändiger und schwieriger zu verstehen.
Lohmann sagt: "Man ist in einem Komplexitätsdilemma in der Klimaforschung. Man möchte gern immer komplexer werden, damit man alles berücksichtigt. Auf der anderen Seite sorgt mehr Komplexität auch für ein schwierigeres Verständnis." Ob die Golfstromzirkulation auch gegenwärtig auf einen Kipppunkt zulaufe, das könne er zwar nicht ausschließen, doch er sagt: "Im Grunde ist das noch Forschungsgegenstand."
Levke: Golfstromzirkulation kippt bei 3,5 bis 5,5 Grad
Auch Levke Caesar vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sagt: "Um mit Gewissheit sagen zu können, bei wie viel Grad Erwärmung die Umwälzzirkulation zusammenbrechen würde, sind eine sehr große Menge an Simulationen und Tests notwendig."
Deshalb gebe es über diese Frage noch viel Unsicherheit: "Der beste Schätzwert für das Erreichen eines Kipppunktes dieser Ozeanzirkulation liegt zwischen 3,5 und 5,5 Grad globaler Erwärmung." Das ändere jedoch nichts daran, dass die atlantische Umwälzzirkulation grundsätzlich einen Kipppunkt habe: "Um dies zu zeigen, sind die vielen Simulationen nicht notwendig."
Wegen dieser Unsicherheiten sagt der Weltklimarat über die Golfstromzirkulation (externer Link): Sie werde bei steigenden Temperaturen sehr wahrscheinlich zurückgehen, es gebe ein "mittleres Vertrauen", dass sie nicht kollabieren werde und ein "mittleres Vertrauen", dass es keine abrupte Veränderung gebe. Innerhalb von Jahrhunderten wäre eine Veränderung außerdem mit "hohem Vertrauen" wieder umkehrbar.
Insgesamt geht Levke Caesar von mehr gefährlichen Kipppunkten aus als der Weltklimarat. Bereits vergangenes Jahr schloss sich eine Gruppe von Kipppunkt-Forschern unabhängig vom IPCC zusammen, darunter auch Kollegen von Levke Caesar vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Sie veröffentlichten anlässlich der UN-Klimakonferenz in Dubai einen Übersichtsbericht, den "Global Tipping Points Report" (externer Link). Acht Elemente im Klimasystem der Erde könnten danach mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kippen - beispielsweise der Amazonas-Regenwald oder Korallenriffe (externer Link).
IPCC: Kipppunkte können abrupt und unumkehrbar sein
Diese unterschiedlichen Einschätzungen liegen an den unterschiedlichen Modellen, die Klimawissenschaftler nutzen - wie das Beispiel der Golfstromzirkulation zeigt. Doch die Unterschiede fangen schon früher an: Nicht jeder Klimawissenschaftler versteht unter dem Begriff "Kipppunkt" dasselbe.
Zum Beispiel gibt es noch eine Debatte darüber, ob die eintretende Veränderung an einem Element des Klimasystems - also etwa am Amazonas-Regenwald oder am Eisschild in Grönland - unumkehrbar sein muss, um sie als Kipppunkt bezeichnen zu können. Oder wie schnell sie vonstattengehen muss, um diesen Begriff verwenden zu können.
Der Weltklimarat zitiert in seinem jüngsten Bericht eine Definition für Kipppunkte, die Interpretationsspielraum lässt. Demnach ist ein Kipppunkt "eine kritische Schwelle, jenseits derer sich ein System neu organisiert, oft abrupt und/oder unumkehrbar" (externer Link). Folgt man dem Weltklimarat, kann die Veränderung an einem Kipppunkt abrupt und unumkehrbar sein - muss es aber nicht.
Auch die Autoren des "Global Tipping Point Reports" verwenden eine Definition für Kipppunkte (externer Link), in der eine Veränderung an einem Kipppunkt nicht unbedingt abrupt und unumkehrbar sein muss. Stattdessen ist für sie ein anderes Kriterium wichtiger: Dass sich die Veränderung eines Kippelements selbst verstärkt, nachdem es einen Kipppunkt überschritten hat.
Ab wann ist eine Veränderung unumkehrbar?
Wie so eine selbstverstärkender Prozess aussehen könnte, zeigt sich am Beispiel der Westantarktis. Der antarktische Kontinent ist bedeckt von einer kilometerdicken Schicht Eis. Diese Eismassen fließen ganz langsam herab und schieben sich als sogenanntes Schelfeis ins Meer, dieses Schelfeis ragt wiederum kilometerweit in den Ozean hinein, zum Teil schwimmt es auf der Wasseroberfläche, zum Teil liegt es auf dem Meeresboden auf.
Mojib Latif erklärt, wie die Westantarktis einen Kipppunkt überschreiten könnte: "Wenn das Eis immer weiter weggefressen wird, weil das Meer wärmer wird, kann das Wasser nach unten fließen und den ganzen Eispanzer instabil machen."
Das heißt, das Eis im Meer wird von unten her angefressen. Und wenn dann der Eispanzer vom Festland immer weiter nachrutscht, dann steigt der Meeresspiegel. Sobald eine bestimmte Schwelle überschritten ist, kommen also Prozesse in Gang, die die Veränderung noch weiter verstärken.
Latif hält es jedoch vor allem für notwendig, dass eine Veränderung unumkehrbar und abrupt ist, um sie als Kipppunkt bezeichnen zu können: "Eine rasche Veränderung von einem Zustand in den anderen und die Irreversibilität - das sind schon zwei fundamentale Eigenschaften." Auch für alle anderen Experten, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, gehören diese Eigenschaften zu Kipppunkten dazu.
Irreversibel oder unumkehrbar wird zumeist so verstanden: Selbst wenn die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre wieder sinkt, kann das Überschreiten des Kipppunkts nicht rückgängig gemacht werden. Ein Beispiel: Stürben große Teile des Amazonas-Regenwalds nach einem Temperaturanstieg von drei Grad Celsius ab und wären sie danach unwiderruflich verloren - selbst wenn die Treibhausgase wieder sinken - hätte er damit einen Kipppunkt überschritten. Eine Veränderung muss aber nicht unbedingt für immer unumkehrbar sein, damit sie als Kipppunkt gelten kann - allerdings für eine sehr lange Zeit.
Grönland hat möglicherweise schon einen Kipppunkt erreicht
Doch wie lange ist sehr lange? Vieles hängt von den Maßstäben ab. Neben der Dauer der Unumkehrbarkeit auch davon, wie schnell eine Veränderung passieren muss, damit man von einem Kipppunkt sprechen kann.
Das zeigt sich am Beispiel des grönländischen Eisschildes. Der Weltklimarat ist sich "praktisch sicher" (externer Link), dass er bei steigenden Temperaturen große Eismassen verlieren werde. Das sei mit "hohem Vertrauen" für Jahrtausende unumkehrbar. Allerdings werde das laut Weltklimarat mit "hohem Vertrauen" nicht abrupt geschehen.
Für Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg ist der grönländische Eisschild trotzdem ein Kippelement. Nimmt man die Erdgeschichte als Maßstab, seien die Jahrhunderte bis Jahrtausende, die der grönländische Eisschild brauche, um abzuschmelzen, eben doch abrupt. "Technisch ist es ein Kippelement. Aber es ist nicht eins, das wir als solches erfahren würden - denn das dauert."
Projektionen gehen davon aus, dass der grönländische Eisschild schon bei einem bis drei Grad globaler Erwärmung unumkehrbar abschmilzt, so Marotzke. "Es ist denkbar, dass wir diesen Punkt bereits überschritten haben", sagt er. Auf lange Sicht hätte das weltweite Auswirkungen: "Wenn das passiert, steigt der Meeresspiegel global um ungefähr sieben Meter".
Extremszenario "Heißzeit"
Dass sich die Forschung bei vielen Kipppunkten noch so unsicher ist, bedeutet nicht, dass es diese Kipppunkte nicht geben könnte. Man weiß es in vielen Fällen schlicht noch nicht - oder man weiß nicht, bei welcher Erwärmung sie eintreten. Daraus ziehen verschiedene Wissenschaftler unterschiedliche Schlüsse.
Jochem Marotzke kritisiert einen zu großen öffentlichen Fokus auf Kipppunkte. Andere warnen vor den dramatischen Folgen, sollten Kipppunkte tatsächlich überschritten werden. Eine Gruppe Wissenschaftler veröffentlichte 2018 einen Aufsatz, der einen Begriff prägte: Heißzeit (externer Link). Beteiligt waren auch einige Mitarbeiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.
Die Autoren beschreiben ein mögliches Szenario, in dem bei fortschreitender Klimaerwärmung Elemente im Klimasystem der Erde kippen und in einem Art Domino-Effekt weitere Elemente zum Kippen bringen. Zum Beispiel könnte es die Golfstromzirkulation verlangsamen, wenn der grönländische Eisschild abschmilzt. Im von den Autoren beschriebenen Extremszenario geriete das Weltklima außer Kontrolle, die Heißzeit wäre angebrochen und wir könnten nichts dagegen unternehmen.
Gerrit Lohmann sagt dazu: "Das ist in meinen Augen nicht gedeckt." Zwar zeige die Erdgeschichte, dass sich auch das globale Klima dramatisch verändern könne - zum Beispiel in Eiszeiten. Auch könne es Dominoeffekte im Klima geben. Doch Lohmann sagt: "Es ist aber die Frage, ob das für die nächsten 1000 Jahre relevant ist ".
Fazit
Es gibt Kipppunkte im Klimasystem der Erde. Wenn ein Element des Erdklimas kippt, wechselt es abrupt und unumkehrbar seinen Zustand. Besonders gefährdet zu kippen ist der grönländische Eisschild, er kann schon bei einer Erwärmung von einem bis drei Grad unumkehrbar abschmelzen. Ebenfalls gefährdet ist der westantarktische Eisschild.
Bei den meisten Elementen im Klimasystem der Erde ist sich die Wissenschaft aber noch nicht einig. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie keinen Kipppunkt haben. Es bedeutet, dass die Forschung noch nicht so weit ist, das mit Gewissheit sagen zu können.
Quellen
Interviews mit
Gerrit Lohmann, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung Bremerhaven
Jochem Marotzke, Max-Planck-Institut für Meteorologie Hamburg
Mojib Latif, Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Levke Caesar, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung Potsdam
Veröffentlichungen
Deutsches Klima-Konsortium: Zukunft der Golfstromzirkulation
GEOMAR: Wie nah ist der Kipp-Punkt?
Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Climate Change 2021: The Physical Science Basis
Max-Planck-Gesellschaft: Die Stabilität der atlantischen Umwälzbewegung
Out There Learning: Antarctica's Tipping Point - The Science of Ice Collapse
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: Kippelemente - Großrisiken im Erdsystem
Stefan Rahmstorf: Überblicksartikel: Nähert sich die atlantische Umwälzströmung einem Kipppunkt?
The Global Tipping Points Report 2023
van Westen et al.: Physics-based early warning signal shows that AMOC is on tipping course
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