Eine Krankenpflegerin reicht einem Patienten ein Glas Wasser. Hitzeperioden sind gerade für Alte und Kranke gefährlich.
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Eine Krankenpflegerin reicht einem Patienten ein Glas Wasser. Hitzeperioden machen gerade älteren und vorerkrankten Menschen zu schaffen.

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#Faktenfuchs: Mehrere Tausend Hitzetote pro Jahr

Sobald es im Sommer richtig heiß wird, beginnen die Diskussionen: Die einen warnen vor Tausenden Toten, die anderen vor Panikmache. Beide Seiten hantieren mit Zahlen, die ihre Sicht stützen. Was stimmt? Und warum sind die Zahlen so unterschiedlich?

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Darum geht’s:

  • Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat mehrfach von Tausenden Hitzetoten gesprochen. Einige Social-Media-User argumentieren dagegen: Das Statistische Bundesamt zähle durchschnittlich nur 19 Hitzetote im Jahr.
  • Das Statistische Bundesamt wertet für die Statistik Totenscheine aus. Darauf halten Ärzte die Todesursache fest: Hitze - etwa durch einen Hitzschlag - wird dort nur in sehr seltenen Fällen als direkte Todesursache vermerkt.
  • Statistiker können aber belegen, dass in heißen Wochen mehr Menschen sterben als sonst - vor allem Alte und Kranke. Und: Selbst die vorsichtigen Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) ergeben immer häufiger Tausende Hitzetote pro Jahr.

In Südeuropa leiden die Menschen seit Tagen unter einer Hitzewelle, und auch in Bayern soll die Hitze kommen. Hitzephasen mit sehr hohen Durchschnittstemperaturen wird es in Zukunft durch den Klimawandel immer häufiger geben, wie dieser #Faktenfuchs erklärt.

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  • Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach - aber auch Forscher, Städte und Kommunen - warnen deshalb regelmäßig vor den gesundheitlichen Folgen von Hitzeperioden. Erst im Mai dieses Jahres schrieb Lauterbach auf X: "Klimawandel kostet schon heute tausende Todesfälle jeden Sommer."

    Doch nicht nur Lauterbachs Warnungen verbreiten sich mittlerweile mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den sozialen Netzwerken und anderswo, sondern auch die Kritik daran.

    Einige werfen ihm Panikmache vor - und teilen zum Beispiel eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes. Darin kommen die Statistiker scheinbar zu ganz anderen Schlüssen: In Deutschland stürben jedes Jahr im Durchschnitt 19 Menschen an Hitze.

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    Auf X spricht eine Userin von 19 Hitzetoten jährlich mit Verweis auf das Statistische Bundesamt. Doch dessen Aussage wird falsch widergegeben.

    Wie kommt es zu diesen Unterschieden? Und wie aussagekräftig sind die unterschiedlichen Zahlen?

    Hitze ist für alte und vorerkrankte Menschen besonders gefährlich

    Zunächst zu den Grundlagen: Warum sind hohe Temperaturen für den Menschen überhaupt so gefährlich? Das Robert Koch-Institut (RKI), Deutschland oberste Gesundheitsbehörde, die unter anderem die Ausbreitung von Krankheiten überwacht und zu Präventionsmaßnahmen forscht, veröffentlicht seit einigen Jahren Auswertungen zur hitzebedingten Übersterblichkeit in Deutschland.

    In einem FAQ zum Thema Hitze schreibt das RKI:

    "Hitze hat vielfältige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden. Hohe Temperaturen können das Herz-Kreislauf-System stark belasten, etwa durch Flüssigkeitsverlust, und erschweren die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur. Bestehende Beschwerden, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atemwegserkrankungen, können verstärkt werden. Schlimmstenfalls kann Hitze auch zum Tod führen."

    Besonders gefährlich sei Hitze für ältere Menschen, Kinder und für Gruppen, die ohnehin schon geschwächt seien, sagt Julia Schoierer. Die Medizinpädagogin erforscht die gesundheitlichen Folgen des Klimas für den Menschen am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

    Gerade bei älteren Menschen, sagt Schoierer, kämen mehrere Risikofaktoren zusammen: Einerseits könne der ältere Körper die Hitze nicht mehr so gut regulieren und sich selbst abkühlen. Andererseits vergäßen diese oft, ausreichend zu trinken und seien nicht mehr so mobil. Sie könnten sich also weniger gut darum kümmern, die Wohnung abzudunkeln oder nachts ausreichend zu lüften. Manche tränken auch bewusst weniger - aus Angst, auf dem Weg zur Toilette zu stürzen.

    Die Menschen stürben dann nicht direkt an der Hitze - sondern unter anderem an einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall oder an Nierenversagen als Folge der hitzebedingten Gesundheitsbelastung. Ohne die Hitze wäre es aber nicht zu diesem Zeitpunkt dazu gekommen. Sie bringt den geschwächten Körper an einen Kipppunkt.

    Auf Social Media kursieren unterschiedliche Zahlen

    Die Zahlen, mit denen in der öffentlichen Debatte argumentiert wird, unterscheiden sich stark. Während die einen mit Verweis auf das Statistische Bundesamt wie gesagt von 19 Toten pro Jahr sprechen, nannte Gesundheitsminister Lauterbach im Juni 2023 laut dem Spiegel sehr viel höhere Zahlen: 5.000 bis 20.000 hitzebedingte Todesfälle pro Jahr.

    Und tatsächlich: Es gibt Berechnungen, die zu diesen Ergebnissen kommen. Ein Überblick:

    1. Robert Koch-Institut: Seit einigen Jahren veröffentlicht das RKI Schätzungen zur hitzebedingten Übersterblichkeit in Deutschland. In einer Publikation aus dem Jahr 2023 nannte das RKI Schätzungen für die Jahre 2012 bis 2022 (siehe Tabelle). Im Jahr 2022, das letzte Jahr, für das Zahlen verfügbar waren, ging das RKI zum Beispiel von 4.500 Hitzetoten aus. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent lag der tatsächliche Wert der Hitzetoten in diesem Jahr zwischen 3.200 und 5.800.

    2. Lancet Countdown Report (2020): Seit 2017 misst der Lancet Countdown - eine interdisziplinäre, internationale Forschungskooperation - anhand von mehr als 40 Indikatoren das Fortschreiten des Klimawandels in vielen Ländern der Welt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Auswirkungen auf die globale Gesundheit. Im Jahr 2020 kam der Lancet Countdown in seinem Bericht zu dem Ergebnis, dass zwischen 2014 und 2018 jedes Jahr durchschnittlich 20.200 Deutsche aufgrund von Hitze starben.

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    Die Tabelle zeigt die Anzahl der Hitzetoten in Deutschland, die das RKI für die Jahre 2012-2022 geschätzt hat.

    Nur wenige Menschen sterben direkt durch Hitze

    Wenn ein Mensch in Deutschland stirbt, hält ein Arzt die Todesursache auf dem Totenschein fest. Dabei richtet er sich nach der "Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO", auch bekannt als ICD-10. So schreibt es das Statistische Bundesamt in einer schriftlichen Antwort an den #Faktenfuchs.

    Nach dieser Liste werden weltweit Todesursachen klassifiziert. Die Kategorie der Hitzetoten wird dabei unter dem Code T67, "Schäden durch Hitze und Sonnenlicht", erfasst. Der Arzt kann diese Diagnose auf dem Totenschein auch noch einmal genauer definieren, indem er zum Beispiel zwischen einem Hitzschlag oder der Hitzeerschöpfung durch Wasserverlust unterscheidet.

    In der Praxis werden "Schäden durch Hitze und Sonnenlicht" aber nur sehr selten als Todesursache vermerkt, wie das Statistische Bundesamt in der bereits erwähnten Pressemitteilung schreibt. Das Statistische Bundesamt wertet alle Totenscheine in seiner jährlichen Todesursachenstatistik aus und hat daher – mit einiger zeitlicher Verzögerung – einen fast vollständigen Überblick darüber, was auf den Totenscheinen als Todesursache vermerkt ist.

    In heißen Wochen versterben mehr Menschen

    Lauterbachs Kritiker lassen jedoch unerwähnt, was in derselben Pressemitteilung auch steht. Und zwar schon im nächsten Satz: "Sehr hohe Temperaturen lassen die Sterblichkeit jedoch insgesamt steigen, da in vielen Fällen die Kombination aus Hitze und Vorerkrankungen das Sterberisiko erhöht. So stiegen in von Hitzeperioden geprägten Wochen die Sterbefallzahlen auch in den vergangenen Sommern an."

    Nur die ärztliche Diagnose auf dem Totenschein anzuschauen, reicht also nicht aus, um zu bestimmen, wie viele Menschen tatsächlich aufgrund einer Hitzeperiode sterben. Wissenschaftler versuchen sich dem Phänomen deshalb über die sogenannte Übersterblichkeit zu nähern: Sie schauen also zum Beispiel, ob in einer sehr heißen Kalenderwoche in Jahr X mehr Menschen sterben als in den vorigen Jahren in derselben Woche.

    Anhand dieser Daten konnten Wissenschaftler des RKI zeigen, dass in heißen Wochen jeweils deutlich mehr Menschen sterben als in kühleren. Als "heiße Wochen" bezeichnet das RKI solche, in denen die Wochenmitteltemperatur bei über 20 Grad Celsius liegt. Die Wochenmitteltemperatur bezeichnet die durchschnittliche Temperatur einer Woche, wenn Tages- und Nachttemperaturen einbezogen werden. An einzelnen Tagen kann die Temperatur in solchen Wochen auf 30 Grad Celsius oder darüber steigen.

    Der Großteil wäre sonst nicht zu dieser Zeit gestorben

    Etwa ab dieser Wochenmitteltemperatur sterben so viele Menschen mehr als sonst, dass man davon ausgehen kann, dass die Hitze der Grund dafür ist (warum sich die Grenze nicht genau bestimmen lässt, dazu gleich mehr). Das RKI bezeichnet diese Menschen als Hitzetote.

    Unter den Verstorbenen seien vor allem ältere Menschen, sagt Matthias an der Heiden, leitender Statistiker der Abteilung für Infektionsepidemiologie des RKI, dem #Faktenfuchs. Er betont: Der Großteil von ihnen wäre sonst nicht zu dieser Zeit gestorben. Denn auch die Gesamtsterblichkeit liegt in Jahren mit vielen heißen Wochen höher als in kühleren Jahren. Und: Wären die Menschen einfach "zu früh" verstorben, dann müssten die Todesfälle in den Wochen nach der Hitzewelle absacken - weil die Menschen, die normalerweise in diesem Zeitraum versterben würden, bereits tot sind. Das sehe man in den Kurven aber nur zu einem geringen Ausmaß: "Das Gros sind zusätzliche Sterbefälle."

    Das RKI schätzt die Hitzetoten

    Um die Anzahl der Hitzetoten zu schätzen, nutzen die Wissenschaftler eine statistische Methode. Sie versuchen zu modellieren, wie viele Menschen in einem bestimmten Jahr in einer "normalen" Woche sterben würden - also in einer Woche, in der die Wochenmitteltemperatur unter 20 Grad Celsius liegt. Um das vorherzusagen, werden viele Faktoren berücksichtigt: langfristige Sterbetrends, wie die Tatsache, dass aufgrund der alternden Bevölkerung jedes Jahr mehr Menschen in Deutschland sterben als im Jahr zuvor. Aber auch regionale und saisonale Unterschiede fließen mit ein, denn nicht in jeder Woche des Jahres sterben gleich viele Menschen. So errechnen die Wissenschaftler des RKI eine "Hintergrundmortalität", von der ohnehin auszugehen wäre. Wenn es Sondereffekte gab - wie im Jahr 2022, als auch im Sommer viele Menschen an Corona gestorben sind - werden diese herausgerechnet. Die verbleibende Differenz zu den tatsächlichen Sterbezahlen sind dann die geschätzten Hitzetoten.

    Andere Studien kommen zu höheren Ergebnissen

    Wie kommt es, dass andere Wissenschaftler zu deutlich höheren Ergebnissen kommen? Neben dem bereits erwähnten Lancet Countdown von 2020 (ca. 20.000 Hitzetote pro Jahr) gibt es eine viel beachtete Studie, veröffentlicht im Fachmagazin "Nature Medicine" vom Juli 2023. Darin kommen die Autoren zu dem Schluss, dass im Jahr 2022 8.173 Menschen in Deutschland an Hitze gestorben seien. Das RKI geht für denselben Zeitraum von 4.500 Hitzetoten aus.

    RKI-Statistiker Matthias an der Heiden hält die Zahlen der Kollegen trotzdem für nachvollziehbar. Dass sie zu anderen Ergebnissen kommen, hänge damit zusammen, dass sie "Hitze" weniger streng definieren als das RKI. Während das RKI erst ab einer Wochenmitteltemperatur von 20 Grad Celsius davon ausgeht, dass die Hitze ursächlich für den Tod von Menschen ist, setzen die Nature-Autoren diesen Wert niedriger an: bei 17 bis 19 Grad Celsius.

    Ab wann Hitze tatsächlich Auswirkungen auf die Anzahl der Sterbefälle hat, lasse sich nicht ganz genau bestimmen, erklärt an der Heiden. Ungefähr bei 20 Grad Celsius Wochenmitteltemperatur beginne die Mortalitätsrate stark zu steigen. Grundsätzlich könne man den Wert aber auch etwas niedriger ansetzen.

    Für zu hoch hält er dagegen die Zahlen, zu denen die Autoren des Lancet Countdown kommen (etwa 20.000 Hitzetote jährlich). Das läge daran, dass diese die Hintergrund-Mortalität in Deutschland weniger genau modellieren könnten als das RKI: weil sie weniger genaue Daten zur Altersstruktur oder zu regionalen Unterschieden in Deutschland haben einfließen lassen. So gerät der Wert für die Hintergrund-Mortalität aus Sicht von an der Heiden zu niedrig – und der Unterschied zur tatsächlichen Sterblichkeit in Hitzewochen zu hoch.

    Eine gute und eine schlechte Nachricht

    Die schlechte Nachricht: In der Zukunft wird die Anzahl der heißen Wochen im Jahr weiter zunehmen – und damit auch die Gefahr, dass mehr Menschen an Hitze sterben. Die gute Nachricht: Die Menschen in Deutschland lernen offenbar, besser mit der Hitze umzugehen. Etwa, indem sie ihre Wohnungen mehr abdunkeln oder an heißen Tagen bewusst nicht rausgehen und mehr trinken. Deshalb sterben heute bei vergleichbaren Temperaturen weniger Menschen, als das in den 1980er- oder 1990er-Jahren der Fall war, sagt an der Heiden.

    Fazit

    Gesundheitsminister Lauterbachs Aussage, dass Hitze jedes Jahr Tausende Tote fordere, ist durch Schätzungen des RKI und Modellierungen von internationalen Forschenden gedeckt. Der Unterschied zu der sehr geringen Zahl von 19 bestätigten Hitzetoten pro Jahr, die auf Social Media immer wieder auftaucht, liegt in der Methodik: Die durchschnittlich 19 Hitzetoten schließen nur Hitzetote mit ein, die nach Einschätzung eines Arztes direkt an Hitze gestorben sind - etwa durch einen Hitzschlag. In solchen Fällen wird dies als Ursache auf dem Totenschein vermerkt. Bei indirekten Hitzetoten, die etwa durch einen Schlaganfall sterben, wird dies nicht notiert. Sie gehen deshalb nicht in die Todesursachenstatistik als Hitzetote ein. Ihre Zahl muss stattdessen geschätzt werden.

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