Ein Arzt arbeitet in Schutzkleidung in einem Intensivbett-Zimmer in der Asklepios Klinik am Bett eines über einen Luftröhrenschnitt beatmeten Corona-Patienten.
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Die Inzidenzen steigen und damit steigt auch die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen.

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Kollateralschäden durch Corona: "Latente Triage" von Patienten

Kollateralschäden durch Corona: "Latente Triage" von Patienten

Die Inzidenzen steigen und damit auch die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen. Seit Wochen warnen Mediziner vor dem Kollaps der Kliniken. Denn Eingriffe zu verschieben, kann gravierende Folgen haben - Ärzte sprechen von "latenter Triage".

Der Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) und die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) warnten am Donnerstag davor, dass die Bettenknappheit zunehmen werde. Die katastrophale Lage im Südosten werde bald auch auf andere Bundesländer übergreifen. Derzeit müssten täglich etwa hundert weitere Covid-19-Patienten auf Intensivstationen aufgenommen, versorgt behandelt und beatmet werden, so DGAI-Präsident Frank Wappler.

Operationen seit Mitte November zurückgegangen

Bis Ende Oktober habe man die Zahl der geplanten Operationen noch aufrechterhalten können. Seit Mitte November gehe diese Zahl deutlich zurück, insbesondere die Operationen, bei den die Patienten anschließend intensivmedizinisch versorgt werden müssen. Die Überlastung der Krankenhäuser macht sich für Betroffene mit akuten Gesundheitsproblemen bemerkbar.

Michael Hallek, Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Uni Köln, kann einige Beispiele nennen. "Wenn man eine Stunde lang mit Patienten während einem Herzinfarkt ein Krankenbett sucht in einer Großstadt, weil es keins mehr gibt, dann ist das für alle Beteiligten, vor allem für den betroffenen Patienten eine extreme Situation", sagt er.

Einen Eingriff zu verschieben, ist keine leichte Entscheidung

Ein anderes Beispiel sind größere neurochirurgische Eingriffe. Michael Hallek betont, dass Mediziner nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, ob eine Operation verschoben werden kann. Aber manchmal hat die Entscheidung schwerwiegende Folgen. "Ich kenne Fälle, wo man sagt, das kann man aufschieben, und dann kommt der Patient nach ein paar Tagen mit Hirndruckzeichen und schwersten Komplikationen und muss notoperiert werden, und das ist passiert, weil wir schlicht und einfach keinen OP mehr haben."

Die Lage ist ernst, darauf weisen Intensivmediziner seit Wochen hin. Die Krankenhäuser sind überlastet, momentan größtenteils durch ungeimpfte Corona-Infizierte mit schweren Verläufen. Schon ist die Rede von einer Triage, also einer Aussortierung.

"Latente Triage": Wenn Patienten nicht mehr optimal behandelt werden können

Noch wird diese Triage nicht bewusst oder systematisch vorgenommen. Aber die Auslastung bewirkt, dass einige Patienten nicht mehr optimal behandelt würden, sagt Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Klinikum Hamburg-Eppendorf. Er spricht von "latenter Triage". Das betrifft vor allem die Regionen mit hohen Inzidenzen.

"Es gibt jetzt schon in den betroffenen Bundesländern eine latente Triage. Wenn ich Schlaganfallpatient nicht übernehmen kann in das Krankenhaus, das 20 Kilometer entfernt ist und die spezialisierte Versorgung anbietet, dann ist das latente Triage." Auch wenn sich die onkologische Behandlung von Tumorpatientinnen und -patienten verzögert, sei das eine Form der Triage, so Kluge.

US-Modell: 80.000 zusätzliche Tote

Eine hohe Auslastung oder sogar Überlastung der Intensivstationen hat jedenfalls erhebliche Folgen, für alle Patienten. In den USA sind dazu gerade neue Modellierungsdaten erschienen. Sie beruhen auf Zahlen der Auslastung von Intensive Care Units, kurz ICU, also Intensivstationen und der gestiegenen Sterblichkeit zwischen den Juli-Monaten 2020 und 2021.

Demnach kann es bei einer hundertprozentigen Auslastung der Intensivbetten innerhalb von zwei Wochen zu bis zu 80.000 zusätzlichen Toten kommen. Das sei eine sehr hohe Zahl, gibt Dirk Brockmann, Physiker an der Humboldt Uni Berlin und am Robert-Koch-Institut, zu. Aber sie sei nicht unrealistisch, denn man könne ohne weiteres in eine Situation kommen, in der die Patienten nicht mehr versorgt werden könnten.

Irgendwann wird der Druck zu groß und das System kippt

Brockmann ist Modellierungsexperte. Er macht sich Sorgen, dass die Intensivstationen sehr schnell an ihre Grenzen kommen und die Versorgung an Krankenhäusern praktisch zusammenbrechen könnte. Der Druck würde sich so stark aufbauen, dass es gewissermaßen zu einem Kipppunkt kommen könnte. "Irgendwann ist das System am Limit. Zunächst gibt es regionale Engpässe, in einem Krankenhaus, dann im nächsten, und im nächsten. Das ist eine Kaskade und das ganze System kocht über."

Brockmann vergleicht das überlastete Gesundheitssystem mit einem biegsamen Stock, den man immer mehr biegt. Dann wird der Druck immer stärker. "Irgendwann macht es knack. Und das besorgt mich sehr stark."

Anstieg der Krebssterblichkeit erwartet

Welche langfristigen Folgen verspätete Diagnosen und Eingriffe haben, dazu gibt es eine Abschätzung von Forschern an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Sie haben ein Vorhersagemodell entwickelt für Patienten, die an Tumoren der Brust, der Lunge, des Darms oder der Speiseröhre leiden. Für die Betroffenen könnte die Sterblichkeit je nach Tumor um etwa fünf bis 10 Prozent steigen. Bei Lungenkrebs sogar bis zu 16 Prozent.

Unter dem Strich könnten bis zu 3.600 Tumorpatienten zusätzlich in England in den ersten fünf Jahren nach ihrer Diagnose sterben. Auf Deutschland ist das nicht direkt übertragbar, sagt Michael Hallek von der Uniklinik Köln. Die Versorgung hierzulande sei besser, zum Beispiel kamen in London Krebspatienten mit Covid-19 bisher gar nicht auf eine Intensivstation.

"Wir wissen noch nicht sicher, ob sich die jetzige Situation und die Pandemie sich auf Krebsmortalität auswirkt." Das werde man erst in ein paar Jahren abschätzen können, so Hallek. Der Grund: Man versuche, verspätete Operationen durch medikamentöse Behandlungen oder durch Bestrahlungen zu kompensieren.

Hallek: Bald Krankenhäuser in ganz Deutschland am Limit

Kurzfristig gesehen, ist Michael Hallek allerdings sehr besorgt. In den Hochinzidenzgebieten, dazu gehört auch Bayern, sei die Lage in den Krankenhäusern bereits kritisch. Und dieser Zustand werde mit hoher Wahrscheinlichkeit bald für ganz Deutschland gelten.

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