Am heutigen Freitag werden in Bayern die Abiturientinnen und Abiturienten verabschiedet. Dann wird Schülern mit bestandenem Abitur das Abiturzeugnis verliehen. Anders als bisher wird in diesem Jahr keine Zeugnisbemerkung über die Nicht-Benotung der Rechtschreibung in den Abiturzeugnissen von Legasthenikern, also Schülerinnen und Schülern mit einer Lese-Rechtschreibstörung, zu finden sein.
Der Grund: Das Bayerische Kultusministerium hat in einer "Übergangsregelung" (externer Link) veranlasst, dass es in diesem Jahr keine Zeugnisbemerkung über die Nicht-Benotung der Rechtschreibung geben wird. Und auch für die Schuljahre 2022 und 2023 können Schüler mit Legasthenie ein neues Zeugnis ohne Zeugnisbemerkung über die Nicht-Benotung der Rechtschreibung beantragen.
Zeugnisvermerk wegen Legasthenie: So geht es in Bayern weiter
"Die aktuelle Übergangsregelung zur Zeugnisbemerkung zeigt ja, dass die Bemerkung in den vergangenen Jahrzehnten nicht gerechtfertigt war. Somit war es jetzt längst überfällig, dass hier Klarheit geschaffen wird und die Bemerkung nun nicht ins Abiturzeugnis aufgenommen wird", begrüßt Tanja Scherle vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie im Gespräch mit dem BR die Entscheidung.
Wie es nach der Übergangslösung weitergeht, ist jedoch noch offen: "Im laufenden Schuljahr 2023/2024 enthalten die Abiturzeugnisse sowie die Jahres- und Zwischenzeugnisse an Gymnasien keine Bemerkungen, wenn Schülerinnen und Schüler aufgrund einer Rechtschreibstörung Notenschutz beantragten oder erhielten. Für die kommenden Schuljahre wird derzeit schulartübergreifend im Rahmen eines Schulordnungsänderungsverfahrens an einer Änderung der entsprechenden rechtlichen Bestimmungen gearbeitet", teilte das Bayerische Kultusministerium auf BR-Anfrage mit. Der Übergangsregelung war ein Urteil des Bundesverfassungsgericht (externer Link) im November 2023 vorausgegangen.
Abitur in Bayern: Das bedeutet eine Zeugnisbemerkung wegen Legasthenie
Bei der umstrittenen Zeugnisbemerkung zur Legasthenie steht im Zeugnis nicht, ob ein Schüler oder eine Schülerin an Legasthenie leidet. Die Diagnose selbst darf bereits seit einigen Jahren nicht mehr im Zeugnis vermerkt sein. Aber: Im Zeugnis stand bislang, dass auf die "Bewertung der Rechtschreibleistung" verzichtet wurde. "Notenschutz" (externer Link) nennt sich diese Praxis. Wurde eine Legasthenie diagnostiziert, können Betroffene in Bayern einen Antrag stellen, dass die Rechtschreibleistungen nicht, beziehungsweise nicht vollständig, in die Abiturnote einfließen.
Legasthenie: Darum geht es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Umstritten ist diese Zeugnisbemerkung deshalb, weil sie eben doch Rückschlüsse auf die Diagnose Legasthenie gibt. Gegner dieser Zeugnisbemerkung sind der Ansicht, dass dies mit einer Benachteiligung einhergeht und zu einer Diskriminierung auf dem weiteren Berufsweg oder auf dem Arbeitsmarkt führen kann.
Drei Männer haben vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Zeugnisbemerkung geklagt. Alle drei Männer sind Legastheniker und hatten im Jahr 2010 mit guten oder sehr guten Noten ihr Abitur in Bayern bestanden. Trotzdem fürchteten sie Benachteiligungen - aufgrund dieser Zeugnisbemerkung. Das Bundesverfassungsgericht hat ihnen recht gegeben - allerdings nur zum Teil.
Zeugnisbemerkung bei Legasthenikern: Grundsätzlich nicht diskriminierend
Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass eine Zeugnisbemerkung grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Hinweise wie die Nichtbewertung der Rechtschreibleistung stelle den Verfassungsrichtern zufolge nämlich "Transparenz über die tatsächlich erbrachten schulischen Leistungen" her. Und dies sei insbesondere in Abiturzeugnissen sogar "geboten". Ein anderer Punkt sei hingegen nicht fair gewesen: In dem Zeitraum, in dem die drei Schüler ihr Abitur gemachten hatten, wurden Nichtbewertungen der Rechtschreibleistung aufgrund anderer Behinderungen nicht vermerkt.
Abitur in Bayern: Legasthenie als Behinderung anerkannt
Den drei Klägern muss also ein neues Zeugnis ausgestellt werden - ohne den Vermerk. Beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (externer Link) stößt das Urteil auf geteilte Reaktionen: Zwar begrüßt man, dass die Anerkennung von Legasthenie als eine Behinderung im Sinne von Art. 3 des Grundgesetzes rechtlich nochmals bestätigt wurde. "Mit der heutigen Entscheidung sind alle Länder verpflichtet, ihr jeweiliges Prüfungsrecht anzupassen", sagt Tanja Scherle vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie in einer Mitteilung (externer Link). Bisher regeln die Bundesländer selbst, wie sie mit Notenschutz bei Legasthenie umgehen. Das führt dazu, dass in manchen Bundesländern die Rechtschreibung beispielsweise nur bis zur 10. Klasse und in anderen, wie Bayern, bis zum Abitur nicht in die Benotung miteinfließt.
Doch der Bundesverband spricht sich dafür aus, dass eine Zeugnisbemerkung zum Notenschutz auch weiterhin wegfallen sollte: "Allein schon das Gefühl, dass man aufgrund der Bemerkung Nachteile im Bewerbungsverfahren hat, das trägt schon dazu bei, dass Bewerber verunsichert an das Bewerbungsverfahren herangehen und sich auch auf bestimmte Stellen erst gar nicht bewerben - aus Angst vor einer Aussortierung", betont Tanja Scherle im Gespräch mit dem BR.
Legasthenie: So äußert sich die Lese-Rechtschreibstörung
Die Störung im Gehirn führt dazu, dass Betroffene starke Schwierigkeiten mit dem Lesen und dem Schreiben haben. Schüler vertauschen beispielsweise Buchstaben und Wörter und leiden auch häufiger unter Schulangst. Legasthenie ist genetisch bedingt und Menschen mit Legasthenie sind ein Leben davon betroffen. Allerdings lässt sich die Lese-Rechtschreibstörung mit geeigneten Therapien und Unterstützungen mildern. "Menschen mit einer Legasthenie arbeiten aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz erfolgreich in allen Berufen", sagt Tanja Scherle.
So viele Menschen sind von Legasthenie betroffen
Bei dem Oberbegriff Legasthenie (externer Link) muss man differenzieren, ob es sich um eine isolierte Lesestörung oder eine isolierte Rechtschreibstörung handelt oder ob beides, das Lesen und das Schreiben, beeinträchtigt ist. Etwa fünf Prozent aller Menschen sind jeweils von den Störungen betroffen und insgesamt haben etwa 10 bis 12 Prozent aller Menschen Legasthenie. In Bayern gelten etwa 10.000 Schülerinnen und Schüler als Legastheniker.
Lese-Rechtschreibstörung: Problem der Diagnose und Erfassung von Legasthenie
Es werde jedoch nirgendwo genau statistisch erfasst, wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind, kritisiert der Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie im Gespräch mit dem BR. Das liege auch daran, dass das Kultusministerium 2007 nur Empfehlungen (externer Link) über "Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben" ausgesprochen habe. Dabei werde aber nicht differenziert, was die Ursache ist: Es können neben Legasthenie unter anderem auch Kinder mit ADHS oder Kinder in besonderen Lebenssituationen sein, bei denen Lehrer die Benotung der Rechtschreibung aussetzen können.
Eltern von Kindern mit Legasthenie seien verunsichert, ob sie den Notenschutz beantragen sollten, weil dieser im Zeugnis vermerkt sein muss. Sie befürchten einen "Stempel". Wird darauf jedoch verzichtet, führt das meistens zu schlechteren Abschlussnoten. Diese Umstände erschwerten oft auch die Diagnose von Legasthenie.
Legasthenie hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun
Legasthenie bedeutet nicht, dass Betroffene weniger intelligent sind. "Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie sind nicht in ihren fachlichen Kompetenzen eingeschränkt, sondern nur in den technischen Fertigkeiten des Rechtschreibens oder des Lesens, die im Zeitalter der Digitalisierung in Schule, Ausbildung, Studium und Berufsleben sehr gut ausgeglichen werden können", betont Tanja Scherle.
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