Laut Recherchen der britischen Zeitung "Sunday Times" sollen in den vergangenen fünf Jahren allein in Großbritannien etwa 3.400 Menschen gestorben sein, nachdem sie das Medikament Pregabalin eingenommen haben. Was heißt das für die Arznei, die unter dem Markennamen Lyrica bekannt ist und auch in Deutschland laut Auswertung der Verordnungsdaten zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen zu den Top 50 der am häufigsten verschriebenen Medikamente gehört? Sind auch Patienten hierzulande gefährdet?
Fragen an Thomas R. Tölle, Neurologe und Psychologe sowie Leiter des Zentrums für interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZIS) am Klinikum rechts der Isar, und Oliver Pogarell, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des LMU-Klinikums und Suchtexperte:
Bei welchen Symptomen nimmt man Pregabalin ein?
Das Medikament Pregabalin komme bei Epilepsie, chronischen Schmerzen, vor allem Nervenschmerzen wie zum Beispiel bei der diabetischen Polyneuropathie oder bei der Gürtelrose sowie bei einer generalisierten Angststörung zum Einsatz, sagt der Neurologe und Psychologe Thomas Tölle vom Klinikum rechts der Isar.
Wie wirkt Pregabalin im Körper?
Pregabalin, ein Präparat aus der Gruppe der Antiepileptika, wirke dadurch, "dass es die Übererregbarkeit von Nervenzellen reduzieren kann, indem es an einem ganz bestimmten Kanal, der auf diesen Nervenzellen sitzt, modulatorisch einwirkt", so Tölle. Erkrankungen, bei denen die Übererregbarkeit von Nervenzellen eine große Rolle spielten, könnten so positiv beeinflusst werden, erklärt der Mediziner den Mechanismus. Die "überschießenden Erregungen" würden dadurch eingedämmt.
Wie gut ist Pregabalin verträglich?
Pregabalin sei sehr gut verträglich, bestätigen sowohl Tölle als auch der Suchtmediziner Pogarell. Das Medikament sei "von der Konstruktion als eine mögliche Dauermedikation gedacht, ohne dass man sich Sorgen machen müsste", betont Tölle. Organschäden durch eine dauerhafte Einnahme seien nicht zu befürchten, Unverträglichkeiten äußerst selten.
Wie wirkt Pregabalin auf die Psyche? Wirkungen und Nebenwirkungen
Pregabalin werde von den Patienten "als eine Wohltat wahrgenommen", es wirke "harmonisierend", sagt der Schmerzmediziner Thomas Tölle. "Pregabalin kann neben Nebenwirkungen wie Sedierung, Benommenheit oder Schwindel auch zu einer Euphorie führen", erklärt auch der Suchtexperte Oliver Pogarell vom LMU-Klinikum. Und genau das sei eben auch "der Gegenstand des Suchtpotenzials von diesem Medikament", sagt er.
Weitere Nebenwirkungen, die durch die Einnahme von Pregabalin auftreten können, sind ein erhöhtes Schlafbedürfnis und eine leichte Gewichtszunahme. Auch die Fahrtauglichkeit kann laut Tölle am Anfang der Therapie eingeschränkt sein. "Aber bei etwa 80 bis 90 Prozent verschwinden diese Nebenwirkungen innerhalb von 14 Tagen bei einer systematischen, langsamen Aufdosierung", betont der Schmerzmediziner.
Allerdings können sich bei der Einnahme von Gabapentinoiden, zu denen Pregabalin gehört, auch Suizidgedanken entwickeln. Das hat unter anderem eine Studie aus dem Jahr 2019 belegt und das bestätigt auch der Neurologe und Psychologe Tölle. Bei Patienten, die selbstmordgefährdet seien, die Todesgedanken hätten, müsse man mit Antiepileptika wie Prebagalin oder auch Antidepressiva "grundsätzlich zurückhaltend" sein und den Patienten "auch immer aufklären, dass sich solche [Todes-]gedanken einstellen könnten und dass er uns versichern muss, dass er, wenn die auftreten sollten, mit uns in Kontakt tritt, um darüber zu sprechen und dann eventuell auch das Medikament abzusetzen", betont Tölle.
Welche Entzugserscheinungen können bei der Einnahme von Pregabalin auftreten?
Seit zehn, fünfzehn Jahren sei das Suchtpotenzial von Pregabalin bekannt, erklärt der Suchtforscher Pogarell. Wenn Menschen das Medikament missbräuchlich, das heißt in zu hohen Dosen einnehmen, dann könne es auch zu Entzugserscheinungen kommen. Entzugssymptome könnten zum Beispiel sein: Schlafstörungen, Unruhe, Übelkeit, Kopfschmerzen. Aber auch vegetative Symptome wie Kreislaufstörungen könnten auftreten, sagt Pogarell.
Die Entzugssymptome, die beim Absetzen von Pregabalin auftreten könnten, seien durchaus vergleichbar mit Entzugssymptomen, die bei anderen abhängigkeitserzeugenden Substanzen auftreten könnten. Bei Menschen, die ein "bestimmtes Suchtrisiko mitbringen" - sei es, weil sie früher schon einmal mit anderen Substanzen wie Alkohol oder Drogen Probleme hatten oder sich wegen einer Suchterkrankung in Therapie befinden - "muss man besonders vorsichtig sein, wenn man das Medikament bei ihnen einsetzen möchte", bekräftigt Pogarell.
Warum kam es durch das Medikament zu Todesfällen in Großbritannien?
Die Todesfälle in Großbritannien seien hauptsächlich Drogenkonsumenten, so kommentiert es der Neurologe Tölle. In der Regel konsumierten 90 Prozent von ihnen in einem hohen Grade Opioide, einige in Kombination mit Benzodiazepinen, mit Alkohol, aber auch mit anderen Substanzen. Nur etwa 25 Prozent derjenigen, die zu Tode kamen, hätten laut Tölle ein Rezept vom Arzt bekommen. Der Neurologe macht deutlich, dass Todesfälle, die in Zusammenhang mit Pregabalin auftreten, in der Regel auf eine Überdosierung und auf die zusätzliche Einnahme anderer Substanzen wie zum Beispiel Opioiden zurückzuführen sind. Zu diesem Ergebnis kam auch schon eine Studie aus dem Jahr 2022.
Eine Gefährdung durch Pregabalin träte immer dann auf, wenn es missbräuchlich in hohen Dosierungen eingenommen werde, sagt dazu der Suchtexperte Pogarell. Die empfohlene Höchstdosis für Pregabalin beträgt 600 Milligramm am Tag. Die meisten Patienten in Deutschland erhalten laut Tölle eine wesentlich geringere Dosis, im Durchschnitt etwa 150 Milligramm am Tag. Nur höchstens fünf bis zehn Prozent der Patienten erhalten die Höchstdosis von 600 Milligramm. "Aber bei Personen, die missbräuchlich das Medikament einnehmen, da können Größenordnungen von einem bis mehreren Gramm pro Tag eingesetzt werden. Und in solchen Fällen kann dieses Präparat durchaus gefährlich werden und Risiken haben", berichtet der Suchtexperte Pogarell.
Neben Müdigkeit könne der übermäßige Konsum des Medikaments zu einer zunehmenden Sedierung bis hin zum Koma führen. "Wir wissen mittlerweile auch, dass insbesondere eine Atemlähmung auftreten kann, vor allem bei Patientinnen und Patienten, die bereits eine Vorschädigung der Lunge mitbringen. In solchen Situationen kann vor allem die Kombination mit anderen dämpfenden Medikamenten sehr gefährlich sein, sodass die Patienten dann eine Atemlähmung entwickeln, die langfristig auch zum Tode führen kann", erklärt Pogarell.
Wie häufig wird Pregabalin in Deutschland verordnet?
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gibt gegenüber dem BR an, dass im Jahr 2021 in Deutschland 5,5 Millionen Packungen des Arzneimittels Pregabalin verkauft wurden.
Gibt es in Bayern aufgrund von Pregabalin Probleme?
Auch in Bayern und München sei es im Zusammenhang mit Pregabalin zu Todesfällen gekommen, erklärt der Suchtexperte Pogarell. Aber eben nur bei Überdosierung des Medikaments. Und: Wenn es zusammen mit anderen Substanzen wie zum Beispiel Opioiden eingenommen wurde. "Wir hatten in unserer eigenen Ambulanz mal eine Untersuchung durchgeführt und festgestellt, dass bis zu 30 Prozent der Personen in der Ambulanz unter Substitution zusätzlich auch Pregabalin eingenommen haben. Und in diesen Fällen kann das natürlich die entsprechenden Risiken wie Atemlähmung haben, was dann auch Todesfolgen nach sich ziehen kann", erläutert Pogarell.
"Aus Deutschland liegen dem BfArM insgesamt 2.941 schwerwiegende Fallmeldungen zu Verdachtsfällen vor. Bei zehn dieser Fälle handelt es sich um Fälle von vollendetem Suizid, bei denen ein Zusammenhang zur Anwendung von Pregabalin vermutet wird – jedoch nicht sicher belegt ist", schreibt das Institut dem BR.
Gibt es Alternativen für Pregabalin?
Es gebe Alternativen zu Pregabalin, sagt Schmerzmediziner Thomas Tölle. Allerdings gebe es für die Behandlung von Schmerzen, bei der die Übererregbarkeit reduziert wird, "keine so richtig schönen Alternativen". Beide Experten betonen: Richtig eingesetzt, ist Pregabalin ein sehr sicheres und gut verträgliches Medikament. Die Behauptung, Pregabalin zu verschreiben, sei wie ein Auto ohne Bremsen zu verkaufen, wie es in den britischen Medien zu lesen war, sei "überhaupt nicht nachvollziehbar für jemanden, der damit täglich zu tun hat und therapiert", sagt der Neurologe Tölle.
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