Einmal pro Woche spielt der knapp vierjährige Can mit Amelie Franek Kaufladen: Heute geht es um Obst und Gemüse. Er soll vor allem darüber sprechen. Denn Can leidet an einer Sprachentwicklungsstörung. Er kann Wörter nicht richtig aussprechen, die er in seinem Alter eigentlich können müsste. Daher trainiert er zusammen mit der Logopädin Franek in der Münchner Praxis Logopädie links der Isar die Aussprache – heute die von Obst und Gemüse. Und das Ganze spielerisch, denn Sprechen soll Spaß machen, so Franek: "Weil man nur mit Freude, Spaß und Interesse eben gut lernen kann. Das heißt, wir versuchen immer, im Spiel zu arbeiten."
Can ist kein Einzelfall. Die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die an einer Sprachentwicklungsstörung leiden, steigt seit Jahren. Die Barmer Ersatzkasse hat dazu eine Studie (Externer Link) veröffentlicht: In Bayern konnten im Jahr 2022 demnach fast elf Prozent der Mädchen nicht altersgerecht sprechen, und sogar fast 16 Prozent der Jungen. Das waren über 255.000 Kinder mit sprachlichen Defiziten, die Ärzte der Krankenkasse gemeldet haben. Für die Betroffenen hat das gravierende Folgen, so Alfred Kindshofer von der Barmer Ersatzkasse Bayern: "Das können einzelne Buchstaben sein, die nicht gesprochen werden können. Oder das Hörverstehen ist beeinträchtigt. Letztlich verstehen die Kinder nicht, was die Erwachsenen sagen."
Oft kommunizieren Kinder im Alltag zu wenig
Die veröffentlichten Zahlen lassen keine Rückschlüsse auf Ursachen zu. Die Logopädin Franek sieht, dass viele Kinder, die sie behandelt, nicht ausreichend im Alltag kommunizieren. Oft sitzen sie zu viel am Smartphone, vor dem Computer oder sehen allein Kinderserien am Fernseher: "Da muss das Kind nicht kommunizieren. Das Kind muss nicht antworten, und das ist ein Grund, den wir sehen, dass man da einfach nur dieses passive Einprasseln von Sprache erlebt." Sie rät daher Eltern, ihr Kind so oft wie möglich in aktive Kommunikation zu bringen – etwa beim gemeinsamen Einkaufen und Abendessen oder auch im Spiel mit Gleichaltrigen. Bezüglich Sprach-Lern-Apps auf dem Smartphone ist sie skeptisch. Diese ersetzen nicht die direkte Kommunikation oder eine logopädische Behandlung, sondern könnten nur eine zusätzliche Maßnahme sein.
Frühes Fördern statt spätes Reparieren
Der Bildungsforscher Kai Maaz vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation sieht die Entwicklung, dass Kinder auch in anderen, nicht-sprachlichen Bereichen zunehmend zusätzlich pädagogisch gefördert werden müssen. Entwicklungsstörungen würden zu spät diagnostiziert: "Man wartet, bis das Kind, bildlich gesprochen, in den Brunnen gefallen ist. Warum können wir das nicht früher angehen?" Er empfiehlt eine generelle frühkindliche Diagnose von Entwicklungsstörungen. Und Lern-Therapeuten nicht in Fachpraxen, sondern direkt an den Schulen anzusiedeln, die dann auch die Lehrer und Lehrerinnen entlasten. Diese sollten sich so mehr auf die Gestaltung des Unterrichts konzentrieren können, die Lern-Therapeuten auf die individuelle, zusätzliche Förderung des Kindes. Zudem könnten so die Förderzeiten besser in die Zeiten des Schulaufenthalts integriert werden.
Maaz beklagt, dass kognitive Förderung mit einem Stigma behaftet ist und daher Eltern oft notwendige Maßnahmen nicht in Anspruch nehmen. "Das Kind ist nicht blöd, sondern hat eine Lernbeeinträchtigung. Ich würde mir wünschen, dass wir gesellschaftlich einen Wandel herbeiführen, dass Förderung kein Stigma, sondern etwas ganz Normales ist." Ein weiterer Kritikpunkt: Zusätzliche Lern-Förderung muss oft von den Eltern bezahlt werden, auch das halte viele davon ab.
Sprache spielend und mit Spaß lernen
Auch Alfred Kindshofer von der Barmer Ersatzkasse ermutigt Eltern, die Sprach-Defizite bei ihrem Kind erkennen, sich ärztliche und fachtherapeutische Hilfe zu holen. Das bezahlt die Krankenkasse. In der Logopädie werde dann altersgerecht Sprache trainiert, so Amelie Franek. Der Logopädin ist wichtig, dass das Lernen von Sprache dem Kind Spaß macht, am besten im Spiel: "Sprache muss auf jeden Fall multisensorisch erfahren werden, also über anfassen, hören, riechen, schmecken. So nah wie möglich am Kind – weil man nur mit Freude, Spaß und Interesse gut lernen kann."
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