In den meisten europäischen Ländern ist die Totgeburtenrate in den Jahren zwischen 2010 und 2021 auf weniger als drei pro 1.000 Geburten gesunken. In Deutschland dagegen ist sie von 2,8 auf 3,7 gestiegen. In Belgien sogar auf 5,6. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung in Rostock.
Sehr junge und ältere Frauen haben ein höheres Risiko für Totgeburten
Wenn ein Kind während der Schwangerschaft im Bauch der Mutter oder bei der Geburt stirbt und bereits mindestens 500 Gramm wiegt oder die 24. Schwangerschaftswoche erreicht hat, handelt es sich um eine Totgeburt. Für die Eltern ist der Tod eines sogenannten Sternenkinds ein traumatisches Erlebnis.
Ein Risikofaktor für eine Totgeburt ist das Alter der Mütter, wie Prof. Michael Abou-Dakn von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe erklärt: "Wir gehen bei sehr jungen Frauen unter 18 Jahren davon aus, dass das soziale Risiko besonders hoch ist und sie häufiger nicht so stark überwacht werden. Denn in dieser Lebensphase wird nicht unbedingt mit einer Schwangerschaft gerechnet." Bei den Älteren ab 35 Jahren liege das Hauptrisiko für einen Tod des Kindes vor der Geburt in der Genetik.
Aber in Deutschland lässt sich die gestiegene Totgeburtenrate nicht mit dem Alter der Mütter erklären, sagt Maxi Kniffka, Erstautorin der Studie: "Einerseits nimmt der Anteil der sehr jungen Mütter in Deutschland ab, gleichzeitig steigt der Anteil der älteren Mütter". "Beide Entwicklungen gleichen sich aus. Dadurch hat der Anstieg des Mütteralters keinen Einfluss auf den Anstieg der Totgeburtenrate."
Maxi Kniffka befasst sich seit der Corona-Pandemie mit diesem Thema. Studien zeigten damals, dass die Totgeburtenraten in verschiedenen Ländern stiegen. Ihr Team fand aber keine Hinweise darauf, dass die Totgeburtenraten in den Jahren 2020 und 2021 systematisch erhöht waren. Dafür aber einen Anstieg seit 2007.
Mehrlingsgeburten sind nicht die Ursache für die hohe Totgeburtenrate
Auch Mehrlingsgeburten können teilweise ein erhöhtes Risiko für eine Totgeburt bedeuten. Denn es kann zum Beispiel vorkommen, dass sich Zwillinge einen Mutterkuchen teilen. Ein Zwilling kann dann unterversorgt sein. Doch auch Mehrlingsgeburten seien nicht die Ursache für den Anstieg der Totgeburtenrate, sagt Maxi Kniffka: "Unserer Studie zeigt, dass 2010 in den meisten europäischen Ländern die Mehrlingsgeburtenrate sogar abgenommen hat und nicht mehr ansteigt. Das ist auch in Deutschland so."
Demografen und Mediziner stehen bei der Suche nach den Ursachen vor einem Rätsel. Zu einem Teil könnte eine Definitionsänderung bei der Erfassung von Totgeburten die steigende Rate erklären. Denn 2018 wurde deren Definition um die Dauer der Schwangerschaft erweitert: Wenn das Kind die 24. Schwangerschaftswoche erreicht hat und stirbt, ist es eine Totgeburt, auch wenn es weniger wiegt als 500 Gramm.
Seit 2018 ist die Totgeburtenrate tatsächlich ein bisschen schneller angestiegen als zuvor. Maxi Kniffka: "Deswegen gehen wir davon, dass das vielleicht ein Effekt ist, der auf die Definitionsänderungen zurückgeht." Einen Anstieg habe es aber schon vorher gegeben. Diese Definitionsänderung könne also auch nicht den großen Teil des Anstiegs erklären.
Vermutung: Statistik enthält Zahlen, die man herausrechnen könnte
Michael Abou-Dakn vermutet noch etwas anderes: Vor gut zehn Jahren wurden in allen Berliner Kliniken Totgeburten untersucht. Über 40 Prozent der Kinder hatten sehr starke Fehlbildungen und galten als nicht lebensfähig. Sie wurden deshalb vor dem Geburtstermin geboren. Bei der Einleitung einer derartigen Geburt wird häufig verhindert, dass das Kind lebend zur Welt kommt. "Diese Kinder sind natürlich auch in der Statistik, wenn sie über 500 Gramm schwer sind. Wenn man diese Zahlen herausrechnen würde, würde ich mich sehr wundern, wenn wir in Deutschland immer noch andere Zahlen hätten als im europäischen Ausland."
Maxi Kniffka könnte sich vorstellen, weitere Risikofaktoren für eine Totgeburt in einer neuen Studie abzuklopfen, zum Beispiel Diabetes oder Übergewicht.
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