Am 4. April 1949 gründeten zwölf Staaten die North Atlantic Treaty Organization, kurz: Nato. Also das westliche Verteidigungsbündnis – das Gegengewicht zum Warschauer Pakt. Das Gründungsdatum jährt sich 2024 zum 75. Mal. Wie damals wollen die Bündnispartner auch heute gemeinsam Stärke zeigen und so einen potenziellen Angreifer von vorneherein abschrecken.
Grenze in Bayern war Grenze der Militärblöcke
Verteidigt worden wäre das Bündnisgebiet während des Kalten Kriegs in Bayern – an der einstigen innerdeutschen Grenze. Deutschland war nach seinem Beitritt 1955 Frontstaat der Nato. Die BR24 Reportage hat sich deshalb auf Spurensuche begeben. Denn das, was einst zu gelten schien, wirkt heute wieder brandaktuell.
Mit einem deutschen Heeresgeneral kehren wir zu den Anfängen von dessen Karriere zurück. Generalmajor Ruprecht von Butler trat 1986 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr ein. Die Kaserne lag nur rund 15 Kilometer von der Grenze zur DDR entfernt. Heute kommandiert er rund 20.000 Soldatinnen und Soldaten.
An der Karte zeigt der Generalmajor die Lage der Stellung an der innerdeutschen Grenze, direkt am Zaun, wo er als ganz junger Soldat eingesetzt war. "So, dass ich noch Blick hatte direkt auf die Grenze. Mit eingegrabenen Positionen, wo wir die Kampfpanzer eingegraben hätten. Und dann hätte ich dort das erste Gefecht aufgenommen, dem Feind erste Verluste zugefügt."
Blick in die Vergangenheit
Ruprecht von Butler erinnert sich an die Zeit, als sich Soldaten zweier deutscher Staaten gegenüberstanden. Damals hätten wohl Deutsche auf Deutsche geschossen, wenn es zum Äußersten gekommen wäre. Straßen entlang der Grenze wären gesprengt worden, um ein Vorrücken des Gegners zu verhindern. Dazu war alles vorbereitet, TNT inklusive. "Das waren diese berühmten Käseladungen à vierzig Kilo, wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe. Da haben sie dann im Wald gestapelt vier Tonnen Sprengstoff liegen gehabt."
Von Butler ist momentan dafür verantwortlich, die 10. Panzerdivision fit zu machen für Deutschlands Nato-Verpflichtungen. Das Ganze habe den Projektnamen "Division 25". Das heißt, dass Deutschland diese Division der Nato zugesagt hat und gesagt hat, "bis 2025 schaffen wir es, einen bestimmten Grad an Einsatzfähigkeit zu erreichen, damit die rund 20.000 Soldatinnen und Soldaten, die mit all ihrem Material zu dieser Division gehören, im Fall der Fälle verlegt werden können, um Nato-Territorium zu verteidigen."
Kaserne Ebern seit 20 Jahren außer Betrieb
Der Generalmajor erzählt auf dem Parkplatz seiner ehemaligen Kaserne, wie er sich erst einmal verlaufen hatte, als ihn die Mutter am Kasernentor abgeliefert hatte. Das Tor gibt es noch, aber als Bundeswehrstandort ist Ebern schon lange Geschichte, wie so viele in Deutschland. Seit 20 Jahren wird hier nicht mehr salutiert. Einmal im Quartal gab es in den Achtzigerjahren den sogenannten Nato-Alarm. "Das heißt, sie sind zum Spieß gegangen, haben Autoschlüssel, Ausweis und Schlüssel abgegeben, die Ausrüstung verpackt und dann ging es in den Bunker."
Von Hand musste Luft in den Bunker gepumpt werden
Der Bunker wird von einem Traditionsverein instand gehalten. Ehemalige Soldaten des Standorts haben sich zu einer Kameradschaft zusammengeschlossen. Sie haben Relikte wie Fotos und Uniformen in einem kleinen Museum zusammengetragen. Der Bunker unter dem ehemaligen Kompaniegebäude gehört dazu: niedrige Türstöcke, Stahlbeton. Pritschen auf der einen, Sitzbänke mit Kopfstützen auf der anderen Seite.
Die Kaserne war in Reichweite von Artilleriegeschützen in der DDR. In den Bunkern hätten Bundeswehrsoldaten die ersten Stunden, vielleicht sogar Tage während eines Angriffs des Warschauer Pakts ausharren sollen.
Besuch in der früheren "Stiefelwaschanlage"
In der Mitte des Areals: der ehemalige Exerzierplatz. Wo bis vor zwanzig Jahren Soldaten antraten, lagert heute eine Spedition Fracht unter freiem Himmel. Butler zeigt die Gebäude, in denen er untergebracht war als Soldat.
Als von Butler 1986 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eintrat, meldete er sich für eine zweijährige Dienstzeit, um Reserveoffizier zu werden. Statt der obligatorischen 15 Monate blieb er neun Monate länger als seine Kameraden, hatte aber eine andere Perspektive und wurde besser bezahlt. "Der Wehrpflichtige kriegte 240 DM. Der Zeitsoldat 1.200 DM. Das war für mich ein unendliches Geld als Schüler."
Grenznahe Kindheit in einer Generalsfamilie
Von Butler wuchs rund 35 Kilometer Luftlinie entfernt von Ebern auf. In der Nähe von Coburg, in Heldritt. Sein Vater Ruprecht und sein Onkel Peter dienten erst in der Wehrmacht, dann in der Bundeswehr. Dort wurden beide Generäle. Kampfpanzer faszinierten den jungen von Butler, Jahrgang 1967. "Unser Wald endete an der innerdeutschen Grenze. Damit war mir immer ganz klar: "Wenn du an der Grenze stehst und da sind Grenzbefestigungen mit Minensperren und Selbstschussanlagen." Die Gedanken von damals waren: "Wenn ein Staat seine eigene Bevölkerung einsperren muss, dass die nicht flüchtet, dann kam mit dem Staat irgendetwas nicht in Ordnung sein. Außerdem standen da 150.000 Russen auf der anderen Seite, hochgerüsteter Warschauer Pakt."
1988 hatte er die Bundeswehr vorübergehend verlassen, um ein Elektrotechnikstudium zu beginnen. Damals aber waren die Hörsäle überfüllt. Ruprecht von Butler zog wegen der besseren Studienbedingungen die Uniform wieder an. Und haderte zugleich damit, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten – und zwar für 15 Jahre. 1989 wurde er dann in seinem alten Bataillon in Ebern Zugführer. Statt wie zuvor nur für acht war er nun für 24 Männer verantwortlich.
Mehrere Zeitenwenden für den Berufssoldaten
Beim Begriff der "Zeitenwende", die Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufen hat, fallen ihm drei sicherheitspolitische Zeitenwenden ein, berichtet Ruprecht von Butler. Er kam am 1. Oktober 1989 zurück. Da begannen so langsam die Montagsdemonstrationen in Leipzig. "Niemand hätte damit gerechnet, dass dort ein System zusammenbricht und man praktisch unmittelbar Zeuge wird. Einen Monat später, also ein Monat, nachdem ich meine Stellung an der innerdeutschen Grenze übernommen hatte, ging die Grenze auf, Menschen kamen rüber."
Ein Jahr später – nach der Wiedervereinigung 1990 – hätte man dann all die Verteidigungspläne dann abheften und ins Militärarchiv geben können, sagt von Butler. Seine Stellungen lagen plötzlich mitten in Deutschland. Mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag schrumpfte die Bundeswehr von zuvor etwa 500.000 auf rund 370.000 Mann – inklusive derjenigen, die aus der NVA übernommen wurden.
"Ich war damals 22 Jahre alt, dass ich das erleben durfte, dass wir nicht mehr Militär brauchten, sondern weniger Militär brauchten. Grenzen gingen auf. Menschen standen sich nicht mehr mit Waffen gegenüber. Gott wie dankbar wäre ich, wenn ich das jetzt über die heutige Zeit auch sagen könnte. Heute unvorstellbar." Generalmajor Ruprecht von Butler
Das war die erste Wende. Die zweite Wende, die der General erlebte, waren die terroristischen Anschläge der Taliban in den Vereinigten Staaten am 11. September 2001.
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine als dritte Zeitenwende
Und dann kam der 24. Februar 2022, der russische Überfall auf die Ukraine. Nach 77 Jahren Frieden greift plötzlich ein Land in Europa ein anderes wieder an und ist bereit, um Machtfragen Grenzen mit militärischer Gewalt zu verschieben, Städte zu bombardieren, Zivilisten zu töten.
"Und was wird jetzt wieder von der Bundeswehr gefordert? Ein Umdenken, weil jetzt plötzlich – ja, ich hätte fast gesagt 'back to the roots' – eine Verteidigungsbereitschaft an einer Nato-Ostflanke mehr gefordert ist denn je." Generalmajor Ruprecht von Butler
Panzerverladung Richtung Litauen
Morgenappell in der Oberpfalzkaserne im Pfreimd. An einem Tag im Januar verladen die Angehörigen des Panzerbataillons 104 ihre Leopard-Kampfpanzer. Es geht nach Litauen. Die Einheit gehört zu von Butlers Division. "Es ist natürlich deutlich euphorischer, weil ich mich sehr auf den Einsatz freue. Weil es zählende Erfahrungen sind", sagt ein Richtschütze auf einem Panzer.
Dann rollen die Leopard-Panzer mit orange-blinkenden Warnleuchten durch die Dunkelheit zum nächsten Bahnhof. Sechs Monate werden die Männer und Frauen des Panzerbataillons in Litauen sein. Danach werden sie abgelöst. Die Verbände rotieren. Bald aber will Deutschland dauerhaft eine Heeresbrigade in Litauen stationieren. Knapp 5.000 Soldatinnen und Soldaten. Ab 2027 soll die Einheit einsatzbereit sein.
Umorganisation der Bundeswehr nötig
Die traditionellen Strukturen passen für eine aufgeteilte Einsatzarmee, nicht aber für eine, die als Ganzes einsatzbereit sein muss, da sind sich Experten einig. Hans-Peter Bartels, einst Wehrbeauftragter des Bundestages, heute Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, hält deshalb eine Strukturreform der Bundeswehr für dringend notwendig:
" Es geht nicht mehr um kleine Kontingente, wie für Afghanistan oder Mali. Sondern um die ganze Bundeswehr, die heute wieder wie zu Zeiten des Kalten Krieges kämpfen können muss, um nicht kämpfen zu müssen. Wenn man das vermeiden will, muss man abschrecken. Abschreckung heißt nicht etwas vorhaben, Abschreckung heißt, etwas haben." Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik
Kriege haben sich verändert - die Drohnengefahr
Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie sich die Anforderungen geändert haben, referiert Generalmajor Ruprecht von Butler. Drohnen kommen dort auf vielfältigste Weise zum Einsatz: Bestückt mit Kameras dienen sie der Aufklärung. Bestückt mit Sprengköpfen oder Granaten dienen sie als Waffensystem oder gar als Munitionstyp. Drohnen sind Massenware. Die Bundeswehr aber steht noch ziemlich blank da, was ihre Abwehr oder einen vergleichbaren Drohnen-Einsatz angeht. Das ist kein Geheimnis. Der Aufbau einer neuen Heeresflugabwehrtruppe wurde inzwischen aber angestoßen, die Beschaffung erster Flugabwehrpanzer: auf dem Weg. Genau wie die Neubeschaffung von Munition.
"Wir müssen dann wieder zu einer Vollausstattung kommen. Die Verantwortung eines Divisionskommandeurs liegt darin, dass ich mit dem Personal und Material, was man mir anvertraut hat, gute Ausbildung mache und dass ich da einen möglichst hohen Stand an einsatzbereiten Kräften daraus generiere. Dafür kann man mich verantwortlich machen." Generalmajor Ruprecht von Butler
Ein knappes Jahr bleibt dem Kommandeur noch. 2025 muss das Ziel erreicht sein: Seine Division muss dann einen bestimmen Grad an Einsatzfähigkeit haben. Das Ziel wurde nach dem russischen Überfall auf die Ukraine um zwei Jahre vorverlegt. Die anderen Divisionen sollen später folgen.
Ein hoher Nato-Posten erwartet den General
Generalmajor Ruprecht von Butler wird die Division 2025 aber nicht mehr als Kommandeur führen. Er übergibt an einen Nachfolger und wechselt auf einen Nato-Posten. Im 75. Jahr des Bestehens des Bündnisses, das er selbst seit fast 38 Jahren mitprägt. Eine Militärallianz, die er als Gemeinschaft begreift, die gemeinsame Werte verteidigt. Auch wenn sich der Fokus der Nato heute nicht mehr auf die innerdeutsche Grenze richtet, wo von Butler einst Soldat wurde, sondern auf Länder weiter im Osten.
Die ganze BR24 Reportage hören - direkt zum Podcast: Kilian Neuwert: 75 Jahre Nato - Der Kalte Krieg in Bayern
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