Tausende Menschen haben in Berlin und Freiburg demonstriert, Tausende in Würzburg, Zehntausende in Köln. In Hamburg musste eine Demonstration am Freitag wegen Massenandrangs sogar abgebrochen werden. Die Veranstalter sprachen von 80.000 Teilnehmenden, die Polizei von 50.000.
Zehntausende werden an diesem Wochenende auch bei Demonstrationen in allen großen bayerischen Städten erwartet. Menschen protestieren "gegen rechts", genauer gesagt gegen Rassismus und rechtsextreme Ansichten.
Correctiv-Recherche habe das "Fass zum Überlaufen gebracht"
Jasmin Riedl, Politikwissenschaftlerin an der Universität der Bundeswehr München, sieht den Auslöser für die Demonstrationen vor allem in den Veröffentlichungen der Rechercheplattform Correctiv in der vergangenen Woche. Correctiv deckte ein Geheimtreffen von AfD-Politikern, Unternehmern, Mitgliedern der CDU und Menschen aus dem rechten Milieu auf, welches im November bei Potsdam stattgefunden hatte. Die Beteiligten berieten bei diesem Treffen über die Vertreibung von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. "Das ist der konkrete Auslöser, der meines Erachtens das Fass zum Überlaufen gebracht hat", sagt Prof. Riedl im Gespräch.
Auch der Politikwissenschaftler Prof. Hendrik Hansen von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung ist der Meinung: Diese Recherche sei der "letzte Tropfen" gewesen, der in vielen das Gefühl geweckt habe, ein Zeichen gegen rechtsextreme Ansichten setzen zu wollen. Hansen beschäftigt sich mit Extremismusforschung und sagt: "Für Leute, die sich mit der AfD befassen, ist bei der Recherche wenig Neues dabei. Aber ich glaube, dass durch die Art und Weise, wie es in die Öffentlichkeit getragen wurde, vielen Leuten erst mal bewusst geworden ist, was da in der Partei gefordert wird."
Menschen hätten das Gefühl, sie seien an einem "Kipppunkt"
Jasmin Riedl beobachtet den Diskurs über Soziale Medien, wie zum Beispiel die Plattformen "X" oder "Bluesky". Ihr Eindruck ist: "Menschen, die auf diese Demonstration gehen, haben tatsächlich das Gefühl, dass wir an einer Art Kipppunkt sind" und sie meinen, dass man "jetzt wirklich für die Demokratie, für unsere Grundwerte einstehen" muss. Grund dafür sei der große Zuspruch für die AfD in Bundesländern wie zum Beispiel Thüringen.
Hendrik Hansen sieht das ähnlich. Da in diesen Bundesländern 2024 Landtagswahlen stattfinden, sei "die AfD so nah wie nie zuvor dran, sogar eine Regierungsbeteiligung zu haben". Das bereitet seiner Beobachtung nach vielen Menschen Sorgen, sodass sie jetzt die Initiative ergriffen, auf die Straße zu gehen. Jasmin Riedl ist der Meinung, dass viele glauben, diese Entwicklung zum jetzigen Zeitpunkt noch stoppen zu können, und ihn deshalb nutzen wollen.
Entwicklung hin zu gesellschaftlicher Spaltung
Die Auswirkungen der Proteste gehen laut Hansen in zwei Richtungen: Zum einen merkten Menschen, die die Demokratie in Gefahr sehen, dass sie mit diesen Gedanken nicht alleine sind. Gleichzeitig hält er eine immer größer werdende gesellschaftliche Polarisierung für möglich. Hansen befürchtet eine tiefe Kluft zwischen Menschen, die eine Partei wie die AfD unterstützen, und Menschen, die ein Verbot der AfD fordern. Das sei besonders in Ländern möglich, in denen die AfD starke Wahlergebnisse erziele.
Jasmin Riedl spricht nicht von einer Polarisierung, da sie keine klare Aufteilung in zwei Gruppen beobachtet. Aber: Es gebe eine Spaltung in der Gesellschaft und Debatten würden emotionaler geführt. "Wir haben eine starke Konfrontation zwischen verschiedenen Grundüberzeugungen. Die manifestieren sich im politischen Diskurs, aber meiner Meinung nach auch im gesellschaftlichen Diskurs", sagt sie im Gespräch mit dem BR.
Riedl glaubt nicht an eine grundsätzliche Veränderung der politischen Kultur und eine Entwicklung hin zu mehr Protesten. Aber, sie beobachtet, dass zum Beispiel Anfeindungen nicht mehr nur anonym im digitalen Raum stattfinden, sondern auch im realen Leben. Als Beispiel nennt sie die den bayerischen Landtagswahlkampf 2023. Damals wurden Politiker der Grünen nicht nur im digitalen Raum attackiert, sondern auch physisch mit Steinen beworfen.
Keine dauerhafte Protestbewegung, aber ab jetzt "immer wieder"
Auch wenn die Proteste momentan viele Menschen dazu bewegen, auf die Straße zu gehen, sieht Jasmin Riedl keine Entwicklung hin zu einem langfristigen politischen Engagement. "Ich würde es zum jetzigen Zeitpunkt als eine spontane Reaktion sehen", sagt sie, und "vielleicht auch als eine Aufforderung an die Politik, dass die demokratischen Parteien sich auch positionieren". Auch wenn politische Vertreter bewusst nicht auf den Protesten zu Wort kämen, sei der Weg in die Öffentlichkeit immer auch ein Wink an die Politik.
Hendrik Hansen kann sich vorstellen, dass es Proteste dieser Art in Zukunft häufiger gibt. Er geht nicht davon aus, dass sich eine dauerhafte Protestkultur gegen rechte Ansichten entwickelt, aber anlassbezogen Menschen "immer wieder" auf die Straße gehen. Hansen ist davon überzeugt: "Wenn die AfD die aktuellen Umfrageergebnisse in Wahlergebnisse verwandeln kann, dann wird es sicherlich auch wieder Proteste geben - gegen die AfD."
Im Video: Das Land geht auf die Straße gegen rechts
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