Für Stephanie Weinberger war es ein Schock. Als sie vor vielen Jahren mit ihren Zwillingen im Kinderwagen spazieren ging, sagte ein alter Mann beim Anblick der behinderten Julia: "Zu meiner Zeit hätte es so etwas nicht gegeben." Und als Stephanie Weinberger ihre Tochter kurz danach wegen ihrer Kleinwüchsigkeit behandeln lassen wollte, lehnte der Arzt ab mit der Begründung, die Hormonbehandlung belaste die Sozialsysteme viel zu sehr. Das Mädchen bekomme doch sowieso nichts mit.
Julia kommuniziert mit Musik
Beide Ereignisse sind schon länger her. Doch noch immer ist Stephanie Weinberger empört, empfindet die Aussagen des alten Mannes und des Arztes als frech und unverschämt. Ihr habe es damals regelrecht die Sprache verschlagen, erinnert sie sich. Heute ist Julia 13 Jahre alt und geht in die 7. Klasse der Georg-Zahn-Schule in Erlangen, einer Schule der Lebenshilfe. Ein lebhaftes, lautes Mädchen, das zwar nicht gut sprechen, aber trotzdem mit seiner Umwelt kommunizieren kann – durch Musik etwa. Wenn ihr die Worte fehlen, fängt Julia an zu singen. Mit den Liedern drückt sie aus, was sie will. "Man muss sich einfach auf sie einlassen", sagt ihre Mutter.
Schräge Blicke in der Stadt
Auch die Beschäftigten und Mitarbeitenden der Regnitz-Werkstätten in Erlangen erleben durchaus, dass sie schräg angeschaut werden oder blöde Sprüche hören, wenn sie in der Stadt unterwegs sind. Die 60-jährige Claudia Brunmayer arbeitet in der Seniorengruppe der Lebenshilfe-Werkstatt. Morgens wird gearbeitet, am Nachmittag reden sie hier darüber, welche Hobbys ihnen im Ruhestand Freude machen könnten. Claudia Brunmayer hat ihres schon gefunden: Sie ist meistens im Nähzimmer zu finden. Geschickt fertigt sie kleine Taschen, Kissen oder Etuis an, die auf Märkten und in Läden der Lebenshilfe verkauft werden.
Nach dem Krieg kaum Senioren mit Behinderung
Dass es in den Regnitz-Werkstätten, so wie in vielen anderen Werkstätten für Menschen mit Behinderung, inzwischen solche Seniorengruppen gibt, ist etwas Besonderes. "Weil diese Menschen im Dritten Reich alle umgebracht wurden", sagt die 2. Vorsitzende der Lebenshilfe Erlangen, Dr. Elisabeth Preuß. "Das heißt, es gab nach dem Krieg praktisch keine Senioren mit Behinderung." Dass dies heute anders sei, sei ein gutes Zeichen, aber auch Auftrag an den Vorstand der Lebenshilfe, "uns dem politischen Protest anzuschließen, dass das nicht wieder neu geschehen kann." Die Pläne AfD-naher und rechtsextremer Akteure zur massenhaften Vertreibung von Migranten, wie sie in Potsdam geschmiedet wurden, müssten für alle ein Weckruf sein.
Lebenshilfe: AfD mit Werten unvereinbar
Auch der Bundesverband der Lebenshilfe positionierte sich schon mehrfach eindeutig. Erst kürzlich erklärte die Bundesvorsitzende Ulla Schmidt (externer Link): "Wir alle müssen jetzt Flagge zeigen. Ich bin daher sehr froh, dass nun endlich Tausende auf die Straße gehen, um der AfD und anderen rechtsextremen Kräften die Stirn zu bieten." Schon 2017 fassten der Bundesvorstand und die Landesvorsitzenden den Beschluss, dass Lebenshilfe und AfD unvereinbar seien, weil die Partei eine inklusive Gesellschaft ablehne.
Im September 2023 beklagte der Beauftragte des Bundes für die Belange von Menschen mit Behinderung (externer Link) zusammen mit anderen Beauftragten vermehrte Anfeindungen von Minderheiten. So habe die Zahl der Straftaten im Bereich Hasskrimininalität nach Angaben des Innenministeriums um fast zehn Prozent zugenommen, von 10.501 im Jahr 2021 auf 11.520 in 2022.
Pioniere in den Werkstätten
Senioren wie Claudia Brunmayer sind Pioniere. Sie haben die Werkstätten für Menschen mit Behinderung mit aufgebaut und ihr Leben lang gearbeitet – etwas, dass die Nazis verhindern wollten. Sie bezeichneten Menschen mit Behinderung als "Volksschädlinge" oder "Ballastexistenzen" – aus Sicht der Nazis hatten sie kein Recht auf Leben. Zehntausende wurden zwischen 1939 und 1945 systematisch getötet – die Zahl der Opfer wird auf mindestens 200.000 Menschen geschätzt. Der Lebenshilfe-Bundesverband geht sogar von mehr als 300.000 aus.
Zehntausende Menschen wurden ermordet
Im Oktober 1939 unterzeichnete Adolf Hitler die sogenannte "Euthanasie-Ermächtigung" und erteilte den Auftrag, "dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod gewährt werden kann." Von "Gnadentod" aber konnte keine Rede sein. Tatsächlich ermordeten Ärzte und ihre Helfer systematisch Kinder und Erwachsene mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen durch Medikamente, Nahrungsentzug oder qualvolle medizinische Tests. Die griechische Bezeichnung "Euthanasie", was so viel heißt wie "schöner Tod", wollen viele Menschen angesichts des Leidens nicht mehr nutzen.
Mindestens 1.900 starben in Erlanger "Hupfla"
In Erlangen starben mindestens 1.900 Menschen in der sogenannten Heil- und Pflegeanstalt, der sogenannten "Hupfla" – viele von ihnen an den Folgen von mangelhafter Ernährung und gezielter Vernachlässigung. 905 Patientinnen und Patienten wurden weggebracht und in einer der Tötungsanstalten ermordet. Aktuell erinnert ein Bus aus Beton auf dem Erlanger Hugenottenplatz daran. Auch Claudia Brunmayer kennt die Geschichte der Hupfla, von der nur noch der Mittelbau des Patiententrakts steht. Der Rest des 166 Meter langen, denkmalgeschützten Gebäudes wurde vergangenes Jahr abgerissen – das Erlanger Universitätsklinikum braucht Platz. Dass wenigstens ein Teil stehenbleibt und zum Erinnerungsort werden soll, ist Claudia Brunmayer wichtig. "Ich bin dankbar, dass ich leben kann und das nicht erleben muss alles", sagt sie.
Im Video: Menschen mit Beeinträchtigung sind auch heute noch Diskriminierung ausgesetzt
Unterstützung von Fremden
Auch Stephanie Weinberger ist dankbar, dass ihre Tochter lebt und dass sie trotz Anfeindungen auch viel Unterstützung erfährt – manchmal von völlig Fremden. Da war zum Beispiel dieser älterer Mann, der sie umarmte und ihr sagte, wie sehr er sich darüber freue, dass sie eine behinderte Tochter habe und wie toll sie das mache. Oder die Wirtin, die sich das Verhalten eines Gastes nicht gefallen ließ. Als die Frau Familie Weinberger sagte, sie sollten gehen, weil sie in Ruhe essen wolle, griff sie ein. "Die Wirtin hat gesagt: Wenn Sie Ruhe haben wollen, dann gehen sie in die Kirche." Auch die vielen Demonstrationen für Demokratie, die nach der Aufdeckung der rechtsextremen Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen stattfinden, geben Stephanie Weinberger Mut.
AfD macht Betroffenen Angst
Wenn da nicht die anderen wären. Diejenigen, die die Politik der AfD herunterspielen oder gar unterstützen. Die zum Beispiel nicht verstehen, dass Stephanie Weinberger noch immer darüber entsetzt ist, dass die AfD-Fraktion im Bundestag schon 2018 in einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung wissen wollte, wie sich die Zahl der behinderten Menschen in Deutschland entwickelt habe. Genauer wollte die AfD damals wissen, wie viele Fälle der durch Heirat in der Familie entstandenen Behinderungen einen Migrationshintergrund haben. Erst in dieser Woche habe sie Bekannten davon erzählt. "Die Reaktion war: Das ist doch übertrieben. Das ist doch eine ganz normale Anfrage gewesen, da steckt doch überhaupt nichts dahinter", berichtet Weinberger. Als "naiv" empfindet sie diese Reaktion, denn es sei ein Unterschied, ob die AfD eine solche Anfrage stelle oder eine andere Partei. "Ich fühle mich verängstigt dadurch und angezählt."
Chance, Geschichte neu zu schreiben
Stephanie Weinberger hat Angst davor, dass sich die Geschichte wiederholt und hofft auf Widerstand. "Wir haben die Chance, die Geschichte neu zu schreiben. Und deshalb stimmt das auch, was alle auf ihren Plakaten stehen haben: Nie wieder ist jetzt!"
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