Die Bezeichnung gefiel Markus Söder nicht: "Erstmal finde ich das Wort Lobbyist diskreditierend", sagte der Ministerpräsident auf Nachfrage zur Personalie Günther Felßner. Die CSU will den Chef des Bayerischen Bauernverbandes zum Landwirtschaftsminister machen, vorausgesetzt, sie wird Teil der nächsten Bundesregierung. Der Bauernverband sei keine Lobbygruppe, sagte Söder, sondern eine breite gesellschaftliche Gruppe.
Die Bundeszentrale für Politische Bildung definiert Lobbyismus so: "Interessengruppen bzw. Verbandsvertreter, die in modernen Demokratien versuchen, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen." Was also, wenn Verbandschefs nicht nur in die Politik gehen, sondern sogar auf Regierungsposten mitgestalten? Felßners Wechsel wäre jedenfalls nicht der erste dieser Art.
1998: Schröder macht Gewerkschafter zum SPD-Arbeitsminister
SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder berief Walter Riester in sein Wahlkampfteam 1998. Zu diesem Zeitpunkt war Riester zweiter Vorsitzender der IG Metall – der größten deutschen Einzelgewerkschaft, die Arbeitnehmerinteressen vertritt. "Ich bin sicher, dass die Wahl Walter Riesters im gesamten DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund, d. R.) und in den Gewerkschaften positiv aufgenommen worden ist", sagte Schröder damals. Er gewann die Wahl, Riester wurde Minister für Arbeit und Sozialordnung und initiierte unter anderem die Riester-Rente. Schon damals bereitete Schröder die Sozialreformen vor, die später von vielen als Verrat der SPD an ihrer Kernwählerschaft verstanden wurde.
Wenn über Personen politische Nähe entstehe, gingen Gewerkschaften davon aus, dass ihre Interessen stärker verfolgt würden, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer. Die Enttäuschung über die damalige Politik wirke bis heute nach, es sei "kein Wunder, dass die Repräsentanz von Gewerkschaftern in der SPD de facto bedeutungslos geworden ist". So gesehen kann der Ansatz, einen Interessenvertreter zum Minister zu machen, auch nach hinten losgehen.
2021: Greenpeace-Chefin geht ins Außenministerium der Grünen
Die neue Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) machte nach der Bundestagswahl 2021 Jennifer Morgan zur Staatssekretärin und Sonderbeauftragten für Internationale Klimapolitik im Auswärtigen Amt. Morgan war bis kurz vor Amtsantritt Co-Chefin der Umweltorganisation Greenpeace. "Ich kenne weltweit keine zweite Persönlichkeit mit ihrer Expertise, Vernetzung und Glaubwürdigkeit in der internationalen Klimapolitik", sagte Baerbock.
Kritik kam von der CSU: "Dass jetzt internationale Lobbyisten die Führung von Bundesministerien übernehmen sollen, finde ich selbst für diese Bundesregierung überraschend", sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt dem Münchner Merkur. Anders sah das Holger Lösch, Vize-Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie: "Jennifer Morgan wird berufen, weil sie sehr großen Einfluss international hat." Man erwarte, dass sie diesen geltend mache, so Lösch.
Robert Habeck (Grüne) berief Patrick Graichen zum Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Der leitete über Jahre die Denkfabrik und Lobbyorganisation Agora Energiewende. Als Lobbyist wurde Graichen nach Amtsantritt öffentlich nicht kritisiert – er stolperte über die sogenannte Trauzeugen-Affäre. Nach weitere Unstimmigkeiten bei der Vergabe von Fördermitteln ließ Habeck Graichen vorzeitig in den einstweiligen Ruhestand versetzen.
2022: Vom Bauernpräsidenten zum CDU-Minister in Schleswig-Holstein
Einen ganz ähnlichen Wechsel, wie er der CSU mit Felßner auf Bundesebene vorschwebt, gab es bereits in Schleswig-Holstein. Nach der Landtagswahl 2022 machte CDU-Ministerpräsident Daniel Günther den Chef des schleswig-holsteinischen Bauernverbands, Werner Schwarz, zum Landwirtschaftsminister. "Natürlich kann man nie ausschließen, dass da sehr kritisch draufgeguckt wird", sagte Günther. Den Vorwurf, er beriefe einen Lobbyisten ins Kabinett, wies er aber zurück: Schwarz sei 32 Jahre lang selbstständiger Landwirt gewesen und kenne die praktischen Probleme. Bei den Grünen – Günthers Koalitionspartner – löste die Personalie dennoch Skepsis aus. Vor Amtsantritt sprach sich Schwarz für mehr Dialog aus: "Wir haben in der Vergangenheit eine gewisse Wagenburgmentalität gehabt. Aber damit kommen wir heute nicht mehr weiter."
Riester, Morgan, Schwarz – und vielleicht bald Felßner? Politikwissenschaftler Neugebauer erinnert im BR-Interview daran, dass auch der Bauernpräsident die Interessen der breiten Bevölkerung vertreten müsste: "Ein Minister schwört seinen Amtseid auf das Wohl des Volkes. Und das Wohl des Volkes ist nun wirklich anders zu definieren als das Wohl einer Branche."
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