Es ist Olivers 27. Geburtstag. Hätte er nicht diese Krankheit, würde er jetzt vielleicht mit seiner Familie eine ihrer Garten-Mottopartys feiern, Freunde aus seiner Grunge-Band einladen oder einen Spieleabend veranstalten. Doch schon seit über einem Jahr feiert die Münchner Familie Masin nicht mehr – weil Oliver keine lauten Geräusche mehr erträgt, nicht aufstehen kann und schon wenig Licht ihm Schmerzen bereitet. Er hat sich nach drei Impfungen gegen Corona mit dem Erreger infiziert und eine schwere Form von ME/CFS entwickelt: die Myalgische Enzephalomyelitis und das Chronische Fatigue Syndrom.
Stundenlang Kraft sammeln für wenige Minuten Aktivität
Ein Jahr lang hat ihn niemand außer seinen Eltern, seinem Zwillingsbruder Tim und seinem älteren Bruder Niko besucht. Meist liegt Oliver still unter seiner Bettdecke, hat die Augen zu oder starrt nach oben. Es ist, als wären seine Batterien immer leer. Seine Familie pflegt ihn, bringt ihm Essen und Medikamente. Immer dann, wenn er nach rund zwei Stunden Pause etwas Kraft gesammelt hat, um wenige Minuten etwas zu tun. Früher hat Oliver Masin in zwei Bands Schlagzeug gespielt und im Master Geschichte studiert. "Es war vor allem schwierig, alles zu verlieren: Studium, Jobs, Freunde, Hobbies", erzählt er im Flüsterton.
Kritik am Gesundheitssystem: "Wie eine heiße Kartoffel"
"Olli ist vom Wesen her eigentlich ein Kämpfer, ein Optimist", erzählt seine Mutter Rosi Masin. Doch in den letzten Monaten habe sich die Familie im Gesundheitssystem "völlig alleingelassen" gefühlt. Sie erzählt von lange Wartezeiten bei Spezialambulanzen, fehlenden Medikamenten, bürokratischen Hürden bei Kranken- und Pflegekassen sowie Vorurteilen bei behandelnden Ärzten. "Alle gehen mit einem um, wie mit einer heißen Kartoffel. Und das kann doch nicht sein. Da liegt ein junger Mensch und keiner weiß, wie es weitergeht!"
Mindestens 30.000 Menschen in Bayern sind von ME/CFS betroffen; "Zigtausende" in ganz Deutschland, erklärt Uta Behrends, Professorin für Infektiologie (TU München) und Leiterin des "Chronischen Fatigue Centrums" für Kinder und Jugendliche an der München Klinik Schwabing. Leider könnten viele Patienten derzeit schlecht versorgt werden. "Das liegt daran, dass die Versorgung sehr aufwendig ist und natürlich auch Spezialexpertise braucht", so die Ärztin. Doch diese gebe es noch nicht überall und das finanzielle Budget reiche bei weitem nicht.
Gesundheitsministerium: Versorgung sei "großes Anliegen"
Das Bayerische Gesundheitsministerium schreibt auf Anfrage von BR24, dass die Versorgung der Betroffenen von ME/CFS und die Erforschung dieses Krankheitsbilds ein großes Anliegen der Bayerischen Staatsregierung seien. In Bayern habe man etwa im Jahr 2020 ein Versorgungskonzept für Menschen, die an ME/CFS leiden, entwickelt. Ab dem Jahr 2022 seien 720.000 Euro in das bayerische Forschungsnetzwerk "Baynet for ME/CFS" geflossen. Alle sechs bayerischen Universitätsklinika seien daran beteiligt. Der Bayerische Landtag fördere außerdem die Erforschung eines Medikaments.
Hoffnung, dass mit mehr Geld Versorgung besser wird
Und auch auf Bundesebene wurde zuletzt im März Geld für Forschung und Versorgung von Long Covid und ME/CFS als Corona-Langzeitfolge bestimmt: insgesamt mehr als 100 Millionen Euro und zusätzlich rund 50 Millionen Euro für die bessere Versorgung von betroffenen Kindern und Jugendlichen. Die Projekte sollen im Herbst 2024 starten. "Wir hoffen deshalb sehr, dass mit diesen Geldern die Versorgung wirklich rasch besser wird", so die Ärztin Uta Behrends.
ME/CFS als Krankheit noch nicht vollständig verstanden
Das große Problem sei: Man habe ME/CFS noch nicht vollständig verstanden. Doch auf neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen könne man hoffentlich bald bessere Diagnostik und Therapie aufbauen. An der Charité in Berlin etwa sieht die Münchner Expertin erfolgversprechende Therapieansätze.
Mehr Forschung, Anerkennung und Versorgung für Betroffene
Für Betroffene wie Oliver Masin könnte diese Forschung nicht schnell genug gehen. Genauso wie noch mehr Geld für Medikamente und Versorgungsstrukturen, etwa aufsuchende Teams, die neben Hausärzten als Spezialisten vor Ort sind. Auf die Frage hin, was sich Oliver erhoffen würde, schließt er die Augen, sammelt seine Energie und sagt: "Dass mehr geforscht wird. Und dass die Ärzte, die Krankenkassen und alle einfach das mitbekommen, wie es ist."
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