Heute Mittag im Münchner Bahnhofsviertel, wo viele türkische Läden sind. Wir wollen wissen, was die Leute von der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu halten. Es finden sich nicht viele, die antworten wollen. Schließlich treffen wir auf zwei Frauen, die sich vor einem Supermarkt unterhalten. Noch während die eine die Festnahme İmamoğlus bedauert, fällt ihr die andere scharf ins Wort: "Wieso schade? Wir leben ja nicht in der Türkei und wissen ja nicht, worum es sich handelt." Wenn sie nach den Nachrichten gehe, seien die Bewertungen so unterschiedlich, dass sie nicht wisse, was sie glauben solle.
Bayern mit türkischen Wurzeln - eine sehr heterogene Gruppe
Die Unsicherheit scheint groß bei den beiden Frauen. Während die jüngere erklärt, dass der Bürgermeister von Istanbul sehr beliebt ist, will die andere das nicht bestätigen. Menschen in Bayern mit türkischen Wurzeln sind alles andere als eine homogene Gruppe, erklärt Vural Ünlü, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Bayern, einem Dachverband von liberalen türkischen Vereinen. Obwohl es unter den Türkischstämmigen in Bayern viele Erdogan-Anhänger gibt – prozentual wahrscheinlich mehr als in der Türkei - ändert sich gerade etwas, glaubt Ünlü. Die Bindung zu Erdogan werde immer schwächer.
"Bindung zu Erdogan wird schwächer"
Arif Tasdelen, Landtagsabgeordneter der SPD mit türkischen Wurzeln, bestätigt das. In seinen Gesprächen hätten die Menschen, die bisher Sympathien für Erdogans Partei hatten, gesehen, dass dieser Schritt einfach zu weit gehe. "Sie sehen auch die möglichen weitreichenden Konsequenzen, die diese Verhaftung für die Türkei haben könnte", so Tasdelen. Er befürchtet, dass dieser Tropfen jetzt das Fass zum Überlaufen bringt. Die Zukunft der Türkei bewertet er aktuell düster.
Vural Ünlü von der liberal-orientierten Türkischen Gemeinde in Bayern glaubt, dass die Türkei an einem Wendepunkt steht. "Es gibt mehrere Szenarien: Es könnte zu Unruhen kommen, ähnlich den Gezi-Protesten. Oder wir erleben eine Biedermeier-Phase, in der sich die Menschen innerlich zurückziehen."
Kundgebungen gegen die Festnahme in München und Nürnberg
Tatenlos wollen die Erdogan-Kritiker in Bayern dem Geschehen in der Heimat nicht zusehen. Sie planen Demonstrationen gegen die Festnahme İmamoğlu. In München und Nürnberg. Die Kundgebung in Nürnberg wird von der SPD und der CHP, der Partei, der der festgenommene Bürgermeister angehört, gemeinsam organisiert.
Eine der Organisatorinnen von CHP-Seite ist Aysun Akman. Das ist jedoch nicht ihr echter Name. Sie hat Angst vor Konsequenzen ihrer Kritik an Erdogan, selbst wenn sie im Ausland lebt. "Wenn man in den sozialen Medien irgendetwas kritisiert, was die AKP nicht richtig macht, besteht immer die Gefahr, dass man bei der Einreise in die Türkei verhaftet wird."
Türkischstämmige Landtagsabgeordnete kritisieren Erdogan
Türkische Organisationen in Bayern, die der AKP von Erdogan nahestehen, äußern sich bisher nicht zur Festnahme. Der Verein UID (Union Internationaler Demokraten), der als Lobbyorganisation der AKP im Ausland gilt, schreibt auf BR24-Anfrage, man fordere Medien und politische Akteure auf, voreilige, einseitige und selektive Betrachtungen zu vermeiden.
Die türkischstämmigen Abgeordneten in Bayern sind sich mit ihrer Kritik jedoch sicher. Neben dem SPD-Abgeordneten Arif Tasdelen erklärt Gülserem Demirel von den Grünen, Recht sei nur noch, was Erdogan dafürhalte. "Es zeigt wieder mal deutlich, dass der türkische Präsident sogar vor gewählten Politikern nicht Halt macht. Wählerwillen und akademische Abschlüsse erklärt er einfach für nichtig. Die Türkei ist kein Rechtsstaat." Ihr Parteikollege Cemal Bozoglu glaubt, dass Erdogan damit nicht durchkommen werde, weil sich das Mehrheitsverhältnis geändert habe und die wirtschaftlichen Probleme immer größer würden.
Nach seiner Festnahme hat der Istanbuler Bürgermeister Imamoglu die Justiz zum Eingreifen aufgefordert.
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