Sieben Uhr morgens bei einer Kleingartenanlage in Eichenau östlich von München: Leo Mandlsperger macht sich bereit. Er streift einen dicken Lederhandschuh über, hängt eine Tasche voller Fleisch um – und holt einen großen Greifvogel vom Beifahrersitz: einen amerikanischen Wüstenbussard namens "Hermine". Leo Mandlsperger ist Falkner. Neben der Zucht von Greifvögeln und dem Trainieren der Vögel für Filmaufnahmen hat er seit 14 Jahren ein weiteres Geschäft: Saatkrähen vergrämen.
Krähengeschrei von 5 Uhr morgens bis halb 9 Uhr abends
Wie hier an der Kleingartenanlage in Eichenau. Dort hat sich vor einem Jahr eine Kolonie Saatkrähen zum Brüten niedergelassen – zum Leidwesen der Anwohner. "Die fangen um fünf Uhr in der Früh an und schreien zwei Monate lang den ganzen Tag, während die Jungen aufgezogen werden, bis um halb neun in der Nacht", erklärt er. "Wir haben immer wieder die Beschwerden: Die Krähen scheißen in die Kaffeetasse, während wir auf der Terrasse sitzen."
Saatkrähen sind schlau – Falkner muss erfinderisch bleiben
Damit das dieses Jahr nicht passiert, ist Mandlsperger vorbereitet: Seit Mitte Februar fährt er jeden Morgen zur Kolonie und lässt bei voller Fahrt seinen Vogel aus dem geöffneten Fenster fliegen. Was nach Showeffekt aussieht, hat einen ganz bestimmten Grund. Saatkrähen sind schlau. Sie erkennen Leo Mandlsperger, sein Auto und auch den Vogel Hermine. Entsprechend erfinderisch muss er bleiben.
Neben der Verwendung verschiedener Vögel gehört dazu auch, den Vogel nicht vom Boden aus starten zu lassen, sondern aus dem fahrenden Auto. "Da ist praktisch der Schreck ein bisschen größer, wenn der Vogel plötzlich erscheint", erklärt er.
Saatkrähen sollen sich neuen Brutplatz suchen
Das Ziel: Die Saatkrähen sollen sich einen anderen Brutplatz suchen – fernab von Menschen. In der Regel gelingt Mandlsperger das innerhalb weniger Wochen. Manchmal braucht es ein wenig länger, aber am Ende gewinnt meistens er. "Geht nicht, gibt's nicht", erklärt er. "Das ist eine Sache des Aufwands." Aufwand, der sich lohnt. Denn die Kleingartenanlage in Eichenau ist nicht der einzige Ort, der immer wieder mit Saatkrähen zu kämpfen hat.
Keine Krähenplage in Puchheim mehr
Auch ein Friedhof in Puchheim war jahrelang Krähenhotspot. Angefangen 2011 mit zehn Krähenpaaren, haben sich hier innerhalb weniger Jahre über 450 Paare angesiedelt. Die Stadt hat zwar versucht, des Problems Herr zu werden, und Maßnahme über Maßnahme ausprobiert. Aber "Luftballons aufhängen, wo sich die Krähen angeblich gestört fühlen, oder Birdguards, wo eine sterbende Krähe zu hören ist – es hat überhaupt nichts gebracht", erinnert sich Dana Fritzenschaft.
Sie war eine der betroffenen Anwohner und hat damals eine Bürgerinitiative zur Vertreibung der Saatkrähen gegründet. "Bei Beerdigungen konnte man den Pfarrer kaum verstehen. Die Gräber wurden attackiert, die Blumen rausgerissen, die Grabsteine waren vollgekotet", erinnert sie sich an die damaligen Umstände. "An der Bushaltestelle hatten Menschen im Sommer mit einem Regenschirm gestanden." Bis zu 96 Dezibel an Krähengeschrei wurden damals vor ihrer Haustür gemessen. Erst mit Leo Mandlsperger und seinen Greifvögeln wendet sich das Blatt.
Ausgewiesene Brutplätze am Rand der Stadt
Inzwischen ist der Friedhof krähenfrei und die Krähen nisten an ausgewiesenen Brutplätzen am Rand der Stadt. Denn so sehr sie die Anwohner stören, Saatkrähen sind in Deutschland geschützte Tiere. Auch Leo Mandlsperger ist nicht per se gegen die Krähen. Vielmehr wünscht er sich, dass Menschen und Krähen friedlich nebeneinander existieren können. Etwa, indem die Krähen in ihre angestammten Habitate zurückkehren, das sind Feldgehölze.
Warum das bislang allerdings nicht immer der Fall ist, darüber kann selbst er nur mutmaßen. "Ich denke, dass sie irgendwo außerhalb illegal vergrämt werden", erklärt er. Denn dann wären sie in ihrer Not gezwungen, schnell neue Brutplätze zu suchen und sich in der Nähe von Menschen niederzulassen. Wächst eine junge Krähe dort auf, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst zum Brüten wieder an diesen Ort zurückkehrt, höher. Ein ewiger Kreislauf.
Falkner sorgt vor - jeder Tag zählt
Entsprechend bedeutend ist es, dass Leo Mandlsperger Jahr für Jahr konsequent gegen die Krähen vorgeht. Und zwar nicht nur, wenn es schon zu spät ist, sondern auch prophylaktisch, indem er ab Anfang Februar in den ehemals betroffenen Gegenden Patrouille fährt. Fällt ihm etwas Ungewöhnliches auf, kann er schnell handeln. Je früher er die Krähen vertreibt, desto besser. Denn Ende März fangen diese an, Eier zu legen. Ab diesem Zeitpunkt will und darf Leo Mandlsperger sie nicht mehr vertreiben.
Bis dahin zählt allerdings jeder einzelne Tag. Lässt er nur einen aus, kann es sein, dass seine ganze Arbeit umsonst war. Denn aus anfänglich zehn Krähennestern können schnell einmal 50 oder 100 werden.
Gewappnet für die Tricks der Krähen
Und nicht nur das. "Die Krähen haben gute Tricks drauf", erklärt Leo Mandlsperger. "Die wissen genau, wann du zum Essen fährst. Die warten schon darauf, mit den Stöcken im Schnabel. Dann fährst du mit deiner Mannschaft zum Essen, kommst zurück, und es sind zehn neue Nester gebaut."
Aber genauso wie die Krähen inzwischen den Falkner kennen, kennt Leo Mandlsperger nach 14 Jahren auch die Krähen und weiß sich gegen die Tricks zu wehren. Das Mittagessen wird kurzerhand von der Bäckerei zur Kolonie verlegt. Nur so schafft es Leo Mandlsperger Jahr für Jahr, die Krähen aus den Gemeinden fernzuhalten.
Inzwischen ist auch die Kleingartenanlage in Eichenau krähenfrei. Aber bis er sich für dieses Jahr entspannt zurücklehnen kann, dauert es noch. Aus Erfahrung weiß er: "Ab Mitte März wird's schon noch mal kernig und spannend, weil da entscheidet sich, wer gewonnen hat."
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