Wie würde eine Welt aussehen, in der die Nürnberger Prozesse nicht stattgefunden haben? Mit dieser Fragestellung haben sich Expertinnen und Experten zum 79. Jahrestag der Nürnberger Prozesse im historischen Saal 600 des Justizpalasts Nürnberg auseinandergesetzt. Wo einst die größten Nazi-Kriegsverbrecher wie Hermann Göring, Rudolf Hess oder Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank saßen, führten am Mittwochabend die Podiumsgäste hitzige Debatten über alternative Szenarien ohne dieses geschichtliche Ereignis.
Eine Welt ohne die Nürnberger Prozesse
Laut dem Buchautor, Juristen und Journalisten Ronen Steinke hätte es zwei Möglichkeiten gegeben: "Das eine wäre die Stalinsche Lösung, die Leute einfach an die Wand zu stellen. Das andere wäre wie klassisch nach dem Ersten Weltkrieg, dass man sich ritterlich die Hand gibt und sagt, da muss man jetzt nicht nachtragend sein." Für den Gastgeber der Podiumsdiskussion und den Leiter des Memorium Nürnberger Prozesse, Alexander Korb, wäre die Welt ohne dieses Ereignis schlechter gewesen. Er glaubt, dass Hauptkriegsverbrecher wie Göring bei einer Verurteilung durch die deutsche Justiz mildere Strafen bekommen hätten. "Darüber hinaus hätte auch das wichtige Symbol für die Weltgemeinschaft gefehlt, dass man für seine Taten zur Verantwortung gezogen wird", sagt Korb.
Ein Ereignis von Weltrang – warum?
Statt blind Rache zu üben oder die Kriegsverbrechen zu vergessen, haben die vier Siegermächte – Frankreich, Großbritannien, USA und die Sowjetunion – den wichtigsten Nazis des Dritten Reichs den Prozess gemacht. Das sei ein Meilenstein des Völkerstrafrechts gewesen, sagt Steinke. Zum ersten Mal in der Geschichte sei ein Angriffskrieg als illegal betrachtet worden, während es jahrhundertelang als Vorrecht der Staaten gegolten habe, einen anderen Staat zu überfallen. "Das ist als Idee revolutionär im Völkerstrafrecht und ein wirklicher Paradigmenwechsel", sagt der Journalist.
Nürnberg: Geburtsort des Völkerstrafrechts
Neu sei es auch gewesen, nicht nur den Krieg zu sanktionieren, sondern auch die einzelnen Personen, die ihn geplant hatten. Die Wissenschaftlerin und Soziologin Alexa Stiller vermutet, dass es auch ohne die Nürnberger Prozesse zur individualisierten Verurteilung von Kriegsverbrechern gekommen wäre – nur eben viel später. „Wahrscheinlich wäre das erst in den 1990er Jahren nach dem Ende der Sowjetunion der Fall gewesen“, sagt die Forscherin.
Die Idee des Völkerstrafrechts sei zwar nicht erst in Nürnberg entstanden, sagt Stiller. Für die UN-Strafgerichtshöfe, die sich mit den Kriegsverbrechen in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren auseinandersetzten, hätten die Nürnberger Prozesse allerdings als Wegbereiter gegolten. Ebenso auch für den heute tätigen Internationalen Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag.
Völkerstrafrecht verhindert Kriegsverbrechen nicht
Dass das Völkerstrafrecht kein Garant für den Weltfrieden sei, erkenne man mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina. Der Internationale Strafgerichtshof habe aktuell mehr denn je zu tun, sagt Steinke. Die Haftbefehle zeigten momentan nur wenig Erfolg. "Es bleibt die Hoffnung, dass die Verbrecher irgendwann auch verurteilt werden", sagt der Jurist.
Erbe der Nürnberger Prozesse
Für das Erbe der Nürnberger Prozesse fühlen sich heute die Stiftung "Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien" und das städtische Museum “Memorium Nürnberger Prozesse“ verantwortlich. Mit unterschiedlichen Veranstaltungen wie der Podiumsdiskussion möchte das Museum die Öffentlichkeit erreichen und sie für das Völkerstrafrecht sensibilisieren. "Gerade in Zeiten wie diesen – denn ohne Gerechtigkeit ist die Welt ein düsterer Ort", so der Leiter des Memoriums Alexander Korb.
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