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Von der Position der Dirndlschleife bis zur Länge der Lederhose: Wenn zur Volksfestsaison, allerspätestens zur Wiesn, Trachtenkleidung wieder vermehrt in Erscheinung tritt, kochen die Emotionen hoch. Kein Wunder, erklären Experten: Tracht hänge seit jeher sehr eng mit Kultur und Identität zusammen.
Welche Tradition Tracht (wirklich) hat
Trachtenmode auf Volksfesten ist ein eher junges Phänomen. Das schildern auch BR24-User: "Es kommt mir schon ein bisschen lächerlich vor, bei diesem ganzen Dirndl- und Lederhosenwahnsinn von Tradition zu sprechen. Ich bin 1947 in München in der Au geboren. Die ersten 50 Jahre meines Lebens hab ich so gut wie nie eine Person mit Tracht auf der Wiesn gesehen", schreibt ein Nutzer auf Instagram. Auch Trachtenexperte Alexander Wandinger bestätigt: "Tracht ist Mode einer bestimmten Zeit, verbunden mit Vorstellungen von Echt-Sein, Tradition, Zugehörigkeit, Heimatvorstellungen." Er leitet das Trachteninformationszentrum des Bezirks Oberbayern und beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema. Sein Fazit: Die eine oder gar richtige Tracht gibt es nicht.
Tracht als Tradition, dahinter steckt oft eine irreführende Auffassung: "Es geht um Tradition und die sollte auch bewahrt werden", schreibt ein weiterer User auf Instagram. Dabei ist Tradition nichts Statisches, sondern "etwas, das immer weitergegeben wird und sich dabei auch wandelt", erklärt Kulturwissenschaftlerin Simone Egger, die sich wissenschaftlich damit beschäftigt. "Bei dem Thema Tracht kann man ganz wunderbar sehen, dass Tradition etwas ist, das immer in Bewegung ist." Das Gegenteil davon sei eine Ideologie, die alles vorschreibe.
Vielfalt von Beginn an: Tracht in der Geschichte
Natürlich gibt es historische Wurzeln und überlieferte Vorläufer der Trachtenmode – mit all ihren regionalen Besonderheiten und vielfältigen Interpretationen, wie Trachtenexperte Wandinger betont. Als vermeintlich bayerische Wurzel dafür wird oft die Miesbacher Tracht um 1840 angeführt. Die gehe allerdings wiederum auf eine bestimmte Kleidungsform des Spätbiedermeier zurück, die damals unter anderem dort verbreitet war, so der Fachmann. Kurze Lederhosen und die graue Jacke mit Kragen, Revers und Aufschlägen in Grün waren im gesamten Alpenraum zu finden, bis nach Österreich in die Steiermark. "Was wir heute als typische Tracht bezeichnen und vielleicht auch noch als 'echt' erklären, war einfach einmal Mode einer bestimmten Zeit, einer bestimmten sozialen Schicht", erklärt Wandinger, "und das aber auch nur immer 20, 30 Jahre lang, bis die nächste Modewelle alles wieder verändert hat."
Wovon die ersten Trachten inspiriert waren
Der Alpenraum, die Faszination fürs Gebirge und die romantische Vorstellung vom dortigen Leben dienten als Inspirationsquelle für das, was fortan als Tracht getragen wurde – und zwar zunächst vor allem von Adel und Bürgertum. Besonders für die Berufskleidung der Jäger hatten bayerische Regenten eine Vorliebe, zum Beispiel die Wittelsbacher. Sie waren es auch, die Trachten mit dem ersten Oktoberfest 1810 regelrecht als Marketing-Instrument einsetzten: Indem sie Kinderpaare in Tracht auf die Theresienwiese zur Hochzeit von Kronprinz Ludwig und Prinzessin Therese schickten – als Symbol für die Eigenständigkeit und kulturelle Besonderheit Bayerns.
Das Dirndl als "invention of tradition"
Das Dirndl wurde um 1900 vor allem bei der weiblichen Stadtbevölkerung beliebt, als Outfit im Sommerurlaub, inspiriert von ländlichen Sehnsuchtsorten - und damit ein Fall von "invention of tradition", erklärt Trachtenforscherin Egger und fügt hinzu: "Damals war das Dirndl etwas ganz Vielfältiges, das man unterschiedlich interpretierte."
Dieses Potenzial erkannten auch zwei "zugezogene" Bielefelder Textil-Händler und Volkskunst-Liebhaber, die Brüder Julius und Moritz Wallach. Sie kleideten zum 100-jährigen Oktoberfest-Jubiläum 1910 den historischen Trachtenumzug ein. Mit dem Nationalsozialismus wurde Tracht dann zum Symbol völkischer Propaganda – und die Nazis schrieben mit einem eigenen Entwurf des "deutschen Dirndl" diktatorisch vor, wie Tracht auszusehen hatte.
Wie Tracht wieder beliebt wurde – und es bleibt
Es dauerte seine Zeit, bis Tracht nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an Beliebtheit gewann – und zum Zeichen für Offenheit wurde, unter anderem durch das Bild der Münchner Olympia-Hostessen von 1972 im hellblauen Mini-Dirndl. Auch für die 68er galt Tracht noch lange Zeit als konservativ und "gestrig". Die heutige Generation könne sich dem Kleidungsstil dagegen wieder spielerisch annähern, beobachtet Kulturwissenschaftlerin Egger – eine erfreuliche Parallele zu den Ursprüngen.
Zu diesem Spiel gehört wohl auch ein gewisser Wettbewerb um die vermeintlich "richtige" Ausführung von Tracht. "Es sind die feinen Unterschiede, anhand derer wir uns abgrenzen", erklärt Egger, warum sich über das Thema Tracht so trefflich streiten lässt. Trachtenexperte Wandinger sieht in den unterschiedlichen Interpretationen gar ein Erfolgsrezept: "Weil sie sich ständig bewegt, bleibt Trachtenmode modern – und weil es so viele Menschen gibt, die etwas damit verbinden." Genau dieses Verbindende könne auch sehr gegensätzlich sein, so Wanninger: "Zugehörigkeit, Heimatvorstellungen, Tradition – aber auch: Partystimmung, 'Mia san mia' und trotzdem offen." Wenn Tracht also eine Tradition hat, dann im Ausdruck von Vielfalt und Gemeinschaft.
Im Video: Der sieben Kilometer lange Trachten- und Schützenzug
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