Die Recherche-Ergebnisse der britischen Tageszeitung "The Guardian", des israelisch-palästinensischen Portals "972" und der hebräisch-sprachigen Nachrichtenseite "Local Call" bergen erheblichen politischen Sprengstoff. Denn erst vor anderthalb Wochen hatte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Karim Khan, Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Galant sowie gegen die drei Hamas-Anführer Yahya Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Haniyeh beantragt.
Ausspähungen bis in jüngste Vergangenheit
Jetzt berichten "The Guardian" sowie die beiden israelischen Recherchepartner "972" und "Local Call", Israels Auslandsgeheimdienst Mossad, der Inlandsgeheimdienst Shin Bet und der Militärgeheimdienst würden seit 2015 auf Anordnung der Regierung den IStGH mit nachrichtendienstlichen Mitteln ausspähen. Gestützt ist der Bericht auf Interviews mit über 20 amtierenden und ehemaligen israelischen Geheimdienst- und Regierungsoffiziellen, früheren Mitarbeitern des Internationalen Strafgerichtshofs, Diplomaten und Anwälten.
Betroffen von den Geheimdienstoperationen sei unter anderem die Kommunikation von zahlreichen IStGH-Offiziellen, einschließlich des derzeitigen Chefanklägers Karim Khan. Die Ausspähung des IStGH reiche bis in die jüngsten Monate und Wochen.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sei somit in die Lage gewesen, vorab die Intentionen des IStGH-Chefanklägers zu erfahren. Netanjahu sei, so heißt es unter Berufung auf eine Quelle, von den Geheimdienstinformationen - abgehörten Telefon- und E-Mail-Nachrichten aus dem Inneren des IStGH - geradezu "besessen" gewesen.
Wie reagieren Israels Regierung und Armee auf Recherche?
Auf Anfrage der drei Medien habe das Büro von Netanjahu in einer kurzen Erklärung mitgeteilt, dass der Bericht "viele falsche und unbegründete Behauptungen enthält, die dem Staat Israel schaden sollen". Die israelischen Streitkräfte hätten die Recherche-Ergebnisse mit den Worten kommentiert: Die Nachrichtendienste der Armee führten "Überwachungen und andere nachrichtendienstliche Operationen nur gegen feindliche Elemente durch und nicht, wie behauptet wird, gegen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag oder andere internationale Elemente".
Warum wurde der Internationale Strafgerichtshof für Israel relevant?
Israel ist der Gründungsakte des IStGH, mit der dieser 2002 ins Leben gerufen worden war, nicht beigetreten. Auch die USA, Russland und China, und damit drei der fünf Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat, verweigerten ihren Beitritt zum IStGH.
124 Staaten sind Mitgliedsländer der IStGH-Grünungsakte, darunter auch Deutschland. Das gesteigerte Interesse Israels an dem Gerichtshof in Den Haag erwachte erst 2015. Der Grund: Palästina wurde 2015 mit der Unterzeichnung der Gründungsakte als Mitglied des IStGH anerkannt, nachdem es drei Jahre zuvor von der UN-Generalversammlung als Nicht-Mitglied aufgenommen worden war.
- Zum Artikel: "Das Verbrechen der Anderen"
Israel: "Diplomatischer Terrorismus"
Die Palästinensische Autonomiebehörde beantragte 2015 umgehend beim Gericht, mutmaßliche Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen, im besetzten Westjordanland und Ost-Jerusalem zu verfolgen. Das sei eine Form des "diplomatischen Terrorismus", wie die damalige Reaktion zahlreicher Regierungsvertreter Israels lautete. "Es wurde als Überschreiten einer roten Linie und als das vielleicht aggressivste Verhalten der Palästinensischen Autonomiebehörde gegenüber Israel auf der internationalen Bühne empfunden", wie der Recherche-Verbund einen israelischen Offiziellen zitiert.
Und weiter: "Die Anerkennung als Staat in der UN ist schön, aber der IStGH ist ein Mechanismus mit Zähnen". Unter der Regie des Nationalen Sicherheitsrats seien dann aus Furcht vor den juristischen und außenpolitischen Folgen einer möglichen Strafverfolgung durch den IStGH der Mossad, Shin Bet und der Militärgeheimdienst beauftragt worden, die Ermittlungen des Gerichtshofs zu verhindern.
Ein ehemaliger israelischer Geheimdienstmitarbeiter erklärte gegenüber dem Recherche-Verbund, die Sorge vor Strafverfolgung habe das "gesamte militärische und politische Establishment" dazu veranlasst, die Gegenoffensive gegen den IStGH "als einen Krieg zu betrachten, der geführt werden muss". Israel müsse dagegen verteidigt werden.
Wurde die damalige Chefanklägerin bedroht?
Der damalige Mossad-Chef Yossi Cohen, so berichtet "The Guardian", hätte die damalige IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda mehrfach bei geheimen Treffen bedroht. Cohen habe dabei versucht, "sie unter Druck zu setzen, damit sie eine Kriegsverbrecheruntersuchung aufgibt".
Die Chefanklägerin habe daraufhin ihre Kollegen am IStGH informiert, der Personenschutz sei verstärkt worden. Befragt vom "Guardian" habe ein Sprecher des IStGH erklärt, er sei sich "proaktiver nachrichtendienstlicher Aktivitäten bewusst, die von einer Reihe nationaler Behörden durchgeführt werden, die dem Gerichtshof feindlich gegenüberstehen". Kurz vor ihrem regulären Ausscheiden aus dem Amt 2021 leitete die aus Ghana stammende Chefanklägerin Bensouda ein Ermittlungsverfahren gegen Israel ein.
Palästinensische Menschenrechtsorganisationen und IStGH
Das besondere Augenmerk der israelischen Dienste habe nach 2015 auch den palästinensischen Menschenrechtsorganisationen gegolten, die dem IStGH detaillierte Informationen über mutmaßliche Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte hatten zukommen lassen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Israels Regierung Mitgliedern des Strafgerichtshofs die Einreise untersagt. Somit waren die Ermittler des IStGH in erster Linie auf die Mitteilungen der palästinensischen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) angewiesen. Der Inlandsgeheimdienst Shin Bet habe vor allem diejenigen palästinensischen Personen abgehört, die Augenzeugenberichte von Opfern an den Strafgerichtshof übermittelt hätten.
Im Oktober 2021 wurden vom damaligen israelischen Verteidigungsminister Benny Gantz sechs palästinensische Menschenrechtsorganisationen zu "terroristischen Organisationen" erklärt, darunter Al Haq, Addameer, Al Mezan und das palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR). Gantz war zu diesem Zeitpunkt in mehreren Berichten der palästinensischen Menschenrechtsorganisationen an den IStGH als Beschuldigter genannt worden, in seiner früheren Funktion als Generalstabschef der israelischen Streitkräfte.
Wochen nach der Erklärung von Gantz berichtete das israelisch-palästinensische Portal "972" unter Hinweis auf das entsprechende Dossier des Inlandsgeheimdienstes: Die Anordnung von Gantz sei "ohne ernsthafte Beweise zur Untermauerung seiner Anschuldigungen erlassen worden". Sie habe offenkundig dem Zweck gedient, die Kooperation der palästinensischen NGOs mit dem IStGH zu unterbinden. Selbst Israels treuesten Verbündeten hätte damals ein weiteres, nachgereichtes Dossier "nicht überzeugt".
Warnungen des Chefermittlers
Vor dem Hintergrund der Recherche-Ergebnisse des "Guardian" und der beiden Portale "972" und "Local Call" erscheinen die jüngsten Aussagen des amtierenden Chefermittlers des IStGH, dem britischen Juristen Karim Khan, in einem anderen Licht.
Khan hatte am 20. Mai bei seiner Bekanntgabe der Entscheidung, Haftbefehle gegen Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Galant zu beantragen, zu erkennen gegeben, dass er von den mutmaßlichen Geheimdienstaktionen Israels gegen das Strafgericht Kenntnis haben könnte.
Er bestehe darauf, sagte Khan, "dass alle Versuche, die Beamten dieses Gerichts zu behindern, einzuschüchtern oder in unzulässiger Weise zu beeinflussen, sofort eingestellt werden müssen". Jede derartige Einmischung sei gemäß des Gründungsvertrags des IStGH eine Straftat. Sein Büro werde "nicht zögern zu handeln", sollte diese Einmischungen fortgesetzt werden.
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