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Vor knapp zweieinhalb Jahren sah die Zukunft von FDP und Grünen rosig aus, denn besonders die Jugend schien sie zu mögen. Bei der Bundestagswahl im September 2021 landeten die Grünen bei den 18- bis 24-Jährigen mit 23 Prozent auf Platz 1, dicht gefolgt von den Liberalen mit 21 Prozent. "Die Jugend schreit nach Bildung und Klima", titelte n-tv angesichts der vielen Erstwähler, die sich für Gelb und Grün entschieden hatten.
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Bei der Europawahl nun ein vollkommen anderes Bild: Bei der Abstimmung, bei der erstmals auch 16- und 17-Jährige wählen durften, landeten weder FDP noch Grüne bei den 16- bis 24-Jährigen vorn, sondern: CDU/CSU mit 17 Prozent, direkt dahinter die AfD mit 16. Viele Kleinparteien zogen zudem die jungen Wähler an. Für Grün dagegen stimmten lediglich 11 Prozent, für die FDP nur 7 – im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 ein extremer Rückgang.
Wie kam es zu dieser Verschiebung?
"Das Wahlverhalten junger Menschen ist vor allem durch große Beweglichkeit geprägt", erklärt Politikwissenschaftler Thorsten Faas im BR24-Interview. Man sehe dort weniger Festlegungen, sondern große Offenheit. "Das führt dann dazu, dass wir auch deutliche Verschiebungen von Wahl zu Wahl sehen, je nachdem, was die Themen der Zeit sind." Bei dieser Wahl sei vergleichsweise viel über Zuwanderung und Integration gesprochen worden.
Das hat offenbar besonders der AfD Auftrieb gegeben. "Es gibt ökonomische Sorgen und auch kulturelle Sorgen innerhalb einer Gesellschaft", analysiert Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl im BR24live, "und Rechtsaußen-Parteien verknüpfen diese Sorgen und Ängste mit migrationspolitischen Antworten".
Thorsten Faas sieht Vielfalt als entscheidendes Muster bei jungen Menschen, der Politikwissenschaftler von der FU Berlin betont: "Es gibt nicht die Gruppe junger Menschen, es gibt auch nicht die eine Partei, die sie wählen, sondern es ist die Gruppe mit dem vielschichtigsten, facettenreichsten Wahlverhalten."
Warum es junge Menschen zur AfD zieht
Bei der Bundestagswahl 2021 entschieden sich 7 Prozent der 18- bis 24-Jährigen für die AfD – jetzt bei der Europawahl waren es 16 Prozent der 16- bis 24-Jährigen. Woher dieser Zuwachs? "Soziale Ungleichheit ist ein Riesenthema", nennt Jugendforscher Simon Schnetzer einen Erklärungsansatz, "und wenn junge Menschen das Gefühl haben, mit der aktuellen Regierung wird das nicht besser, dann suchen sie nach Alternativen."
Schnetzer ist Mitautor der Jugendstudie "Jugend in Deutschland", die zuletzt das Potenzial von AfD-Wählern unter jungen Menschen besonders hoch eingeschätzt und damit für Kontroversen gesorgt hat. Die gefallene Zustimmung für die Grünen unter jungen Menschen deutet er so: "Die Sorge vor dem Klimawandel ist kaum geringer, nur haben sich eben Krieg und insbesondere Inflation noch deutlich darübergelegt", sagt er im Bayern2-Interview.
AfD hat "nahezu dominante Position" in sozialen Medien
Ein Faktor dürfte zudem die Präsenz der AfD auf sozialen Medien – besonders auf Tiktok – spielen. "Wir haben viele Studien gesehen, dass die Partei in sozialen Netzwerk-Plattformen eine nahezu dominante Position hat", bilanziert Politikwissenschaftler Faas.
"Soziale Medien sind das Spielfeld, auf dem die AfD so erfolgreich ist wie keine andere Partei“, meint auch Jugendforscher Schnetzer. Und es sei eben das Spielfeld, auf dem sich junge Menschen über Politik informieren. "Hier hat die AfD im Moment einen echten Vorteil, weil sie sich sehr früh darum gekümmert hat, weil sie dort sehr präsent ist und weil sie mit ihren polarisierenden Aussagen diskreditiert, was die anderen machen."
Welche Themen junge Menschen bewegen
In den sozialen Medien schafft es die AfD offenbar besser als andere, die Sorgen junger Menschen zu adressieren. Infratest dimap hat bei der Europawahl gefragt, wovor sich die Menschen in Deutschland am meisten fürchten: Bei 18- bis 34-Jährigen lag auf Platz eins die Angst vor Kriminalität (69 %), gefolgt vom Klimawandel (65 %) und der Sorge, dass sich das Leben in Deutschland stark verändern wird (60 %).
"Die Kriminalitätssorge ist gekoppelt mit Migrationsfragen", erklärt Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl, "und Asyl und Migration ist ein Thema, das innerhalb der Europäischen Union schon lange Auffahrt genommen hat." Insofern sei es nichts Verwunderliches, dass sich dort die Prioritäten verschoben haben. Zudem sei für sie deutlich, dass es besonders Zukunfts- und ökonomische Sorgen bei jungen Menschen sind.
Migration und Asyl auch bei Jüngeren im Fokus
Für Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist das Thema Migration das entscheidende. Auf Facebook nannte er den Zustrom junger Männer als Grund für das Wahlverhalten jüngerer Menschen. "Sie erleben, dass ihre Angst vor der Gewaltbereitschaft der jungen Männer aus dem Maghreb und dem Nahen Osten nicht ernst genommen oder als Rassismus diskreditiert wird", schreibt Palmer auf Facebook. Auf diese Lebenswirklichkeit stießen "die Dogmen der Wokeness und der offenen Grenzen", so Palmer weiter.
Der ehemalige Grünen-Politiker fordert deswegen: "Wer Klimaschutz ernsthaft betreiben will, darf diesen nicht länger in den 'Kampf gegen Rechts‘'verstricken". Damit verspiele man die gesellschaftlichen Mehrheiten für den Klimaschutz, sogar bei der Jugend.
Dass das Thema Migration eine größere Rolle spielt, zeigt auch die Jugendstudie der Tui-Stiftung, die vorletzte Woche erschien. 6.000 junge Menschen im Alter von 16 bis 26 Jahren in sechs europäischen Ländern wurden befragt. Erstmals seit Jahren war dort nicht mehr Klimawandel das drängendste Problem der jungen Menschen, sondern Migration und Asyl. In Deutschland war der Anteil derer, die das so sehen, am höchsten.
Warum die Kleinparteien so viele Stimmen erhielten
Überraschend bei den 16- bis 24-Jährigen ist zudem der hohe Anteil von Wählern von Kleinparteien. Ihr Anteil liegt bei 28 Prozent. Davon schnitt die Europa-Partei Volt mit 7 Prozent besonders gut ab. "Jüngere Personen nutzen die Europawahl als Experimentierfeld", erklärt Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl. "Man hat mehr Möglichkeiten, Einfluss zu haben durch die Abgeordnetenwahl, weil es die Sperrklausel nicht gibt." Bei Bundestagswahlen gilt die 5-Prozent-Hürde. Bei der Europawahl reichten in Deutschland diesmal 0,6 Prozent, um einen Sitz im Europaparlament zu gewinnen.
"Der andere Punkt ist, dass jüngere Wählerinnen und Wähler ohnehin eher mal geneigt sind, nicht die politische Mitte, nicht die großen Regierungsparteien zu wählen", so Jasmin Riedl von der Universität der Bundeswehr. Mit Blick auf die AfD sehe man allerdings auch, dass nicht alle Jungen progressive Wähler sind.
Reaktionen auf das Abstimmverhalten
Im Fokus steht trotz der Erfolge der Kleinparteien dennoch das gute Ergebnis der AfD bei jungen Wählern. Das wurde unterschiedlich aufgenommen. "Es gibt in der harten Ablehnung der Ampel die Gegenreaktion, dass viele sagen: 'Wir wollen jetzt ein Zeichen setzen und wir wählen Protest‘", sagte beispielsweise CSU-Politiker Christian Doleschal. Deshalb müsse man schauen, wie man die junge Generation wiedergewinnen kann.
Eva Lettenbauer von den Grünen sagte, dass man "für deutlich mehr angetreten" sei. Man analysiere gegenwärtig, woran es gelegen hat, denn es sei ganz wichtig, für jüngere Menschen Politik zu machen und sich für ihre Zukunft einzusetzen.
Der Bayerische Jugendring (BJR) warnte indirekt davor, das Ergebnis unter den jungen Menschen als großen Erfolg für die AfD zu sehen. "Eine große Mehrheit der Erstwähler:innen zwischen 16 und 24 Jahren hat für Europa gestimmt", teilte BJR-Vorsitzender Philipp Seitz mit. "Mehr als zwei Drittel dieser Alterskohorte wählten Parteien, die für die europäische Integration und für den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten stehen." Seitz forderte eine gezieltere Ansprache junger Menschen, deren "Zukunftsängste sollten ein Weckruf für alle demokratischen Parteien sein."
Welche Aufgaben sich für die Politik ergeben
Ob die Parteien der Mitte von der AfD Wähler schnell zurückgewinnen können, da hat Politikwissenschaftlerin Riedl so ihre Zweifel. "Die große Herausforderung ist, dass wir ziemlich komplexe und auch langfristig angelegte Problemlagen haben". Man sei fast im dauerhaften Krisenzustand und das ließe sich einfach nicht von heute auf morgen ändern. "Und das große Angebot, das die AfD macht, ist, dass sie auf diese komplizierten und komplexen Fragen einfache Antworten zu geben scheint, wie man aus dieser Misere rauskommt."
Politikwissenschaftler Faas sieht einen Anhaltspunkt bei der fehlenden Ausgewogenheit in den sozialen Medien, diese dürfe man "nicht schulterzuckend zur Kenntnis nehmen". Ausgewogenheit sei eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren von Wahlkämpfen. "Insofern sollte man genau diese Verteilung von Meinungen, Positionen in sozialen Netzwerk-Plattformen, die Rolle von Algorithmen sehr genau anschauen und vielleicht auch mutiger sein." Es gehe nicht um Zensur, so Faas, sondern um "Regulieren mit Blick auf Fairness und Zugang".
Doch allein mit Präsenz in den sozialen Medien dürften die Parteien der Mitte die jungen Wähler von der AfD nicht zurückholen können. Der BJR-Vorsitzende Seitz fordert von der Politik "Investitionen in Demokratie-Bildung, in Jugendarbeit, in die Bedarfe der jungen Generation generell". Wer die Demokratie in Europa stärken wolle, dürfe bei der Jugend nicht sparen.
Im Video: Interview mit Politikforscher Albrecht von Lucke
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