Ohne Umschweife haben zumindest zwei der drei Ampelparteien ihre Verluste eingestanden. Eine "harte Niederlage" konstatierte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert für die Sozialdemokraten, die ihr ohnehin schon schlechtes Ergebnis von 2019 noch einmal unterschritten. Grünen-Chefin Ricarda Lang sagte nüchtern: "Damit kann man nicht zufrieden sein." Ihre Partei hat am meisten verloren. Lediglich die FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann zeigte sich "sehr erleichtert", sah ihre Partei mit fünf Prozent stabilisiert.
Rauer Wind in der Ampel-Koalition zu erwarten
Für die kommenden Monate verspricht dieses Wahlergebnis weitere und neue Spannungen innerhalb der Ampel-Koalition. Kühnert deutete das bereits direkt nach der Prognose kurz nach 18 Uhr an. Nächster Prüfstein seien die Haushaltsberatungen. Die laufen gerade, Anfang Juli soll eigentlich ein gemeinsamer Haushalt stehen. Die SPD wird Kühnert zufolge einen Haushalt, der sozialen Zusammenhalt und Investitionen nicht abbilde, nicht mittragen können. Ein deutlicher Hinweis an Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), der die bisherige Finanzierungslücke im Haushalt 2025 durch Einsparungen schließen möchte.
Die FDP wiederum wird aus dem Ergebnis nicht den Auftrag mitnehmen, künftig weniger auf Konfrontation zu gehen. Noch vor der Europawahl hatte Parteichef Lindner der SPD mit auf den Weg gegeben, sich für höhere Schulden und die Abschaffung der Schuldenbremse schon mal eine Mehrheit jenseits der FDP zu suchen. Der dritte Ampelpartner schien am Wahlabend geradezu in Schockstarre verfallen zu sein. Die Grünen sind regelrecht abgestürzt, eine eigene Kanzlerkandidatur wäre mit derart schlechten Werten kaum zu verkaufen.
SPD-Generalsekretär Kühnert nimmt aus dem Wahlkampf mit, "unsere Wähler wollen uns kämpfen sehen". In der Tat hatte die SPD im Europawahlkampf große Probleme zu mobilisieren und sich zu profilieren, sogar im Bereich der sozialen Themen wird ihre Kompetenz zunehmend angezweifelt. Wie aber sich profilieren, wenn in der Ampel ständig moderiert werden muss, um sich widersprechende Positionen ab- und auszugleichen?
Womit die Rolle von Olaf Scholz in den Vordergrund rückt. Dass die SPD bei der Europawahl den Bundeskanzler großflächig plakatiert hat, war nicht von allen als geschickter Schachzug gesehen worden. Nun kann nicht nur der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz das Ergebnis als "schwere Niederlage" für den Bundeskanzler lesen.
Dass jedoch mit Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zur Bundestagswahl ein Reservekanzlerkandidat aus der Reserve kommen könnte, gilt in der SPD als nahezu ausgeschlossen. Auch wenn zuletzt SPD-Urgestein und ehemalige Parteivorsitzende Franz Müntefering angedeutet hatte, dass Scholz als SPD-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl nicht automatisch gesetzt sei.
Das Merz-Problem der Union bleibt bestehen
Die Union ihrerseits kann sich trotz eines stabilen Ergebnisses nicht zurücklehnen und ausruhen. Zum einen ist da die leidige Frage der Beliebtheitswerte des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Der möchte wohl sehr gerne Kanzlerkandidat der Union werden, weist aber kaum bessere Sympathie- und Umfragewerte auf als der aktuelle Bundeskanzler. Diesem legte der CDU-Generalsekretär und Merz-Vertraute Carsten Linnemann direkt nach der Europawahl schon einmal nahe, angesichts des schlechten SPD-Ergebnisses die Vertrauensfrage zu stellen: "Hat der Bundeskanzler überhaupt die Legitimation, dieses Land zu führen?" Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai die Frage, ob er noch Vertrauen in Olaf Scholz habe, auch auf Nachfrage des Moderators nicht beantworten wollte.
Zum anderen hat die AfD bei dieser Europawahl stark hinzugewonnen – mit ihrem Kernthema Sicherheits- und Migrationspolitik. "Hocherfolgreich" nannte Parteichefin Alice Weidel die Performance ihrer Partei. Gerade vor den Landtagswahlen im Osten Deutschlands dürfte das der Union zu denken geben – zumal die AfD bei der Europawahl im Osten zur mit Abstand stärksten Kraft geworden ist. Die Union hat angekündigt, erst nach den Wahlen in Ostdeutschland im Herbst endgültig über die Kanzlerkandidatur zu befinden. Bis dahin wird der Schwebezustand mit leichtem Vorteil Merz anhalten. CSU-Chef Markus Söder und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) dürften ihre Ambitionen noch keineswegs vollständig aufgegeben haben – auch wenn beide betonen, wie gerne sie ihre jeweiligen Bundesländeraufgaben innehaben.
BSW – Gekommen, um zu bleiben oder noch mehr
Für die Linkspartei hat die Europawahl einen Abwärtstrend verstetigt, der auch für die kommenden Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern wenig Gutes verspricht. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat aus dem Stand über fünf Prozent der Stimmen geholt, die Linke wiederum ist weiter signifikant geschrumpft. Sollte die AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg ähnlich stark auftreten wie gerade bei den Europawahlen, könnte Sahra Wagenknecht als Königsmacherin gefragt sein. Wenn nämlich keine andere Partei mit der AfD zusammenarbeiten möchte, könnte das für das BSW die Chance sein, in einer Regierung Verantwortung zu übernehmen. Und das im ersten Jahr der Parteigründung. Kein Wunder, dass Sahra Wagenknecht nach der Europawahl geradezu euphorisiert wirkte.
Komplett ausgeschlossen scheint eine Zusammenarbeit zwischen BSW und AfD jedenfalls nicht. Der Lesart von SPD-Chef Lars Klingbeil, dass AfD gleichbedeutend mit Nazis sei, wollte sich Wagenknecht nicht anschließen. Wagenknecht erklärte in einer Diskussionsrunde nach der Europawahl, "man sollte auch mit der AfD etwas differenzierter umgehen". Im Bundestag ist es ohnehin bereits jetzt so, dass AfD und BSW Positionen vertreten, die weitgehend deckungsgleich sind – Stichwort Russland-Politik oder Migration. Zuletzt konnte man das in der Debatte nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur inneren Sicherheit beobachten.
Im Video: Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke analysiert im BR24-Interview das Ergebnis der Europawahl
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