Knapp einen Monat vor der Bundestagswahl haben die Nationale Armutskonferenz (NAK) und die Diakonie Deutschland die Parteien in der Diskussion über die Zukunft des Sozialstaats vor Populismus gewarnt. Die Debatte über Armut und existenzsichernde Mindestleistungen sei in den vergangenen Monaten von Unsachlichkeit geprägt gewesen, sagte der Präsident der Diakonie Deutschland, Rüdiger Schuch, in Berlin zur Vorstellung des "Schattenberichts - Armut in Deutschland" (Externer Link).
Ausgrenzung und Diskriminierung von armen Menschen
Darin wird unter anderem eine Ausgrenzung armer Menschen in Debatten beklagt. Die Diskussion etwa über das Bürgergeld sei "geprägt durch die umfassende Diskriminierung von Betroffenen", heißt es in dem Bericht: "In Armut lebenden Menschen wird unterstellt, sie seien faul und arbeitsunwillig." Schuch betonte, der "Schattenbericht" solle der aufgeheizten Stimmung "eine klare und nüchterne Darstellung entgegensetzen".
In dem Bericht werden auch Betroffene zitiert: "Brauche ich Hustensaft oder ist die Hose kaputt, muss ich auf Essen verzichten. Jeden Tag ausprobieren: Wo muss ich heute sparen? Was kann ich nicht kaufen, obwohl ich es dringend brauche? Das erschöpft und macht mürbe."
Aus Scham – Leistungen oft nicht in Anspruch genommen
Zudem fordert die NAK umfassende Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen und besonders bei der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen. Armutsbekämpfung müsse ein "konkretes und sicher finanziertes sozialstaatliches Ziel" sein. Der Zugang zu sozialen Leistungen müsse nicht nur vereinfacht, sondern auch entstigmatisiert werden. Mehr als ein Drittel der Betroffenen nimmt den Angaben zufolge Leistungen oft aus Unwissen oder auch aus Scham gar nicht in Anspruch.
17,7 Millionen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht
2022 waren rund 5,7 Millionen Menschen in Deutschland "von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen", heißt es unter Verweis auf Zahlen des Statistischen Bundesamts. Weitere zwölf Millionen Menschen waren armutsgefährdet. Insgesamt waren damit 17,7 Millionen Menschen – das ist gut ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Alleinlebende Menschen, Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern seien besonders häufig betroffen. Frauen seien nach wie vor stärker gefährdet als Männer.
Armut ziehe sich als Familiengeschichte häufig durch mehrere Generationen. Kinder aus armen Familien hätten es in der Schule und beim Berufseinstieg besonders schwer. Die NAK wirbt deshalb für eine Kindergrundsicherung, die aber auch ausreichend finanziert sein müsse.
Umgestaltung der Sozialsysteme gefordert
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, forderte eine Umgestaltung der Sozialsysteme. Das beinhalte unter anderem eine Weiterentwicklung des Bürgergeldes, aber nicht dessen Abschaffung. Nötig sei ein "proaktiver Sozialstaat". "Dieser versucht, Schäden zu verhindern", etwa durch zusätzliche Qualifizierung von Menschen und eine bessere Gesundheitsvorsorge. Zu viele Sozialsysteme würden derzeit erst greifen, wenn Menschen krank und arbeitslos werden.
Fratzscher erklärte mit Blick auf 1,7 Millionen offene Stellen in Deutschland, der Arbeitskräftemangel in Deutschland beinhalte ein Riesenpotenzial zur Bekämpfung der Armut und zur Entlastung der Sozialsysteme.
Die NAK ist ein Bündnis von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Selbsthilfeorganisationen. Zu den Mitgliedsorganisationen zählen unter anderem der Deutsche Gewerkschaftsbund, Caritas und Diakonie, die Arbeiterwohlfahrt und das Deutsche Kinderhilfswerk.
Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Im Jahr 2022 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person bei einem Jahreseinkommen von unter 15.765 Euro. 2022 waren laut NAK 26,4 Prozent der Alleinlebenden und 23,7 Prozent der Alleinerziehenden-Haushalte armutsgefährdet. Bei Familien mit drei oder mehr Kindern lag die Quote bei 22,7 Prozent.
Mit Informationen von epd und dpa
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