Für Ursula von der Leyen (CDU), die amtierende Präsidentin der EU-Kommission, ist die Situation Chance und Risiko zugleich. Nach der Europawahl an diesem Wochenende muss sie zunächst bei einem EU-Gipfel mit qualifizierter Mehrheit dem Europäischen Parlament als Kandidatin vorgeschlagen werden – das heißt: Die 13 Staats- und Regierungschefs, deren Parteien in der konservativen EVP vertreten sind, hat sie sicher. Doch das reicht nicht. Es müssten mindestens drei weitere Staats- und Regierungschefs von großen Mitgliedstaaten für sie stimmen.
Von der Leyen braucht Partner
Im zweiten Schritt gilt es dann noch, die Mehrheit der Parlamentsmitglieder bei einer geheimen Wahl hinter sich zu vereinen. Dafür könnten von der Leyen und die EVP darauf setzen, über eine Einbindung von Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen eine stabile Allianz für ihre Wahl zu schmieden. Aber auch hier spielen Faktoren der Unsicherheit mit.
Der erste sind die Grünen: Sollten sie nicht mitspielen, könnten Stimmen aus der Rechtsaußen-Partei Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni dazu beitragen, von der Leyens Wiederwahl sicherzustellen. Ein solcher Pakt könnte allerdings dazu führen, dass verärgerte Sozialdemokraten von der Leyen die Zustimmung verweigern. Das wäre der zweite Unsicherheitsfaktor.
Wie hältst du’s mit Meloni?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte zuletzt im Wahlkampf, wenn die nächste Kommission gebildet werde, "darf sie sich im Parlament nicht auf eine Mehrheit stützen, bei der es auch die Unterstützung von Rechtsextremen braucht". Ob Scholz damit auch Melonis Partei meinte, ließ er vermutlich absichtlich offen. Aus dem Kanzleramt hatte es bislang geheißen, Scholz schätze die Zusammenarbeit mit Meloni auf EU-Ebene sehr.
Gerüchte um Mario Draghi
Der große Vorteil von der Leyens ist, dass keinem der anderen Spitzenkandidaten für den Kommissionsvorsitz ernsthafte Chancen eingeräumt werden, von den Staats- und Regierungschefs nominiert zu werden. Zu ihnen zählen etwa der luxemburgische Sozialdemokrat Nicholas Schmit oder die deutsche Grünen-Politikerin Terry Reintke. Vereinzelt spekuliert wird lediglich noch darüber, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den früheren italienischen Regierungschef Mario Draghi als Alternative zu von der Leyen vorschlagen könnte. Unterschwellig kursiert auch der Name der bisherigen Präsidentin des Europaparlaments, Roberta Metsola aus Malta.
Allerdings ist kaum vorstellbar, dass das Parlament noch einmal einen Kandidaten akzeptiert, der zuvor nicht von einer Parteienfamilie nominiert wurde. 2019 hatte dies dazu geführt, dass von der Leyen bei ihrer Wahl im Parlament bis zur letzten Sekunde zittern musste und am Ende nur neun Stimmen mehr bekam als nötig.
"Spitzenkandidaten" – gescheiterter Anlauf zu mehr Bürgernähe
Zu den Wahlen im Jahr 2014 griff erstmals die Überlegung, mehr Bürgernähe bei der Wahl des Kommissionspräsidenten zuzulassen – das wurde auch umgesetzt. Die Macht der Nationalstaaten wurde beschnitten. Das neue Prinzip sah vor, das Amt des EU-Kommissionspräsidenten automatisch an die Person zu vergeben, die bei dem Parteienbündnis mit den meisten erhaltenen Stimmen auf der Wahlliste ganz oben steht. Entsprechend wurde Jean-Claude Juncker von der siegreichen EVP dann auch Kommissionspräsident.
2019: Von der Leyen statt Weber
In dieser Logik wäre fünf Jahre später eigentlich Manfred Weber (CSU) an die Spitze der EU-Kommission gerückt. Doch der Widerstand der Staats- und Regierungschefs gegen ihn war so groß, dass sie das Spitzenkandidatenprinzip kurzerhand umgingen. Hinzu kam: Das Parlament war in der Personalie Weber nicht einig und konnte wenig entgegensetzen.
Stattdessen wurde mit Ursula von der Leyen eine den Mitgliedstaaten genehme Kandidatin zur Kommissionspräsidentin ernannt. Die Nationalstaaten hatten sich gegenüber dem Parlament durchgesetzt.
Von der Leyen bei den Grünen hoch im Kurs
Hoffen kann von der Leyen schließlich auch darauf, dass sich vor allem Grüne fragen müssen, was ein Widerstand gegen die CDU-Politikerin für das Erreichen der eigenen politischen Ziele bedeuten könnte. Zwar wurde von der Leyen zuletzt vorgeworfen, wegen der europaweiten Bauernproteste ihre Ambitionen beim Umweltschutz zurückgeschraubt zu haben.
Zugleich räumen aber grüne Spitzenpolitiker ein, dass es aus grüner Sicht wohl keine besseren realistischen Alternativen zu von der Leyen gibt. Bei einem Pressegespräch Anfang April in München lobte die grüne Europa-Parlamentarierin Henrike Hahn von der Leyen mit den Worten, unter Ihr sei "ordentlich was vorangegangen". Die 65-jährige Kommissionspräsidentin gilt unter Grünen als engagierte und überzeugte Klimaschützerin.
- Zum Artikel: Kommission – Parlament – Rat: So funktioniert Europa
Mit Informationen der dpa
Im Video: Abschlusskundgebungen in Deutschland zur Europawahl
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