Yousef, der mit seinem richtigen Namen nicht in den Medien auftauchen möchte, ist als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland gekommen. In seiner Heimat war er aktiv in der Opposition und deswegen in Lebensgefahr. Hier angekommen, nimmt er eine Arbeit im Transportgewerbe auf. Über Mittelsmänner beteiligt sich Yousef schließlich am Schmuggel mit Captagon. Für jeden erfolgreichen Transport gibt es bis zu 30.000 Euro.
"Ein großer Drogenhändler, der irgendwo in dieser Welt lebt, will sein Geschäft in einem Land wie Deutschland aufziehen. Er beauftragt eine Person, die ihm vor Ort dabei hilft. Jemand, der vielleicht keine Ahnung hat. Das ist die Struktur. Man baut Vertrauen auf, dann tauchen sofort die Drogen auf", sagt Yousef.
Captagon-Schmuggel – Aufgriffe in Deutschland häufen sich
1,2 Tonnen Captagon – diese Menge an Tabletten haben hiesige Ermittler nach Recherchen von BR, MDR, RBB, SWR, der FAZ und der Mediengruppe Bayern in den vergangenen Jahren beschlagnahmt. Einnahmen in Höhe von rund 100 Millionen Euro lassen sich damit beim Straßenverkauf erzielen. Das ursprünglich für die Behandlung von ADHS hergestellte Medikament ist in den 80ern – gut 20 Jahre nach der Einführung – wegen der Nebenwirkungen und der hohen Suchtgefahr wieder vom Markt genommen worden. Heute hat die Aufputschdroge nur noch den Namen mit dem ursprünglichen Captagon gemeinsam. Die Grundstoffe Amphetamin und Koffein kosten nur wenige Cent pro Pille.
Die Herstellung der Pillen fand bislang vorwiegend in Syrien und im Libanon statt. Von dort schmuggelten sie kriminelle Netzwerke über die EU vor allem nach Saudi-Arabien. Dort konsumieren in erster Linie Jugendliche Captagon als eine Art Partydroge. Nach Einschätzung hiesiger Behörden ist Deutschland bislang nur ein Transitland, in dem Captagon zur Tarnung umverpackt wird – in Öfen oder Sandsäcke zum Beispiel. "Wir hatten große Sicherstellungen und es sind auch im Grunde genommen Rekordsicherstellungen an Amphetaminen, die wir hier in Deutschland erzielen konnten", sagt Lutz Preisler vom Bundeskriminalamt. Er ist dort zuständig für den Bereich synthetische Drogen.
Große Captagon-Funde im Raum Regensburg
In der Region Regensburg gab es in den vergangenen Jahren zwei größere Captagon-Funde. In Aachen läuft aktuell ein Prozess gegen vier Männer aus Syrien. Ihnen wirft die Anklage bandenmäßigen Handel mit Captagon vor. Die Behörden hatten sie im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem bisher größten Fund von Captagon in Deutschland festgenommen. In der Summe konnten Polizei und Zoll über 460 Kilogramm sicherstellen. Nach Recherchen der ARD-Sender und der Medienpartner gibt es zumindest zwischen zwei Fällen personelle Verbindungen. Das deutet auf Netzwerkstrukturen hin. Im Sommer vergangenen Jahres hob das BKA im Raum Regensburg zudem ein Labor aus. Es stieß dabei auch auf Grundstoffe, die für die Herstellung von mehreren Tonnen Captagon-Pillen gereicht hätten.
Für Antonio Hubbard, Ex-Mitarbeiter der US-Anti-Drogen-Behörde DEA ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass sich Deutschlands Rolle in dieser Kette längst verändert hat: "Wenn eine Produktionsstätte in einem Land gefunden wird, dann ist die Phase des Transits überschritten. Das ist der Anfang davon, dass auch in diesem Land die Droge in größerem Umfang verwendet oder missbraucht wird. Und wenn ein solches Labor entdeckt wird, wie viele wurden dann übersehen und wie viele sind noch in Betrieb?" Auch das BKA geht von einem großen Dunkelfeld aus und schätzt, dass Behörden nur zehn Prozent der tatsächlich geschmuggelten Captagon-Tabletten finden. "Alle Länder sollten sich über den Aufstieg von Captagon Sorgen machen", sagt Antonio Hubbard deswegen.
Unions-Außenexperte Hardt: Entschlossenes Vorgehen gegen Captagon nötig
Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion formuliert vor diesem Hintergrund einen Appell in Richtung Bundesregierung und Behörden: "Wehret den Anfängen, agiert jetzt und sorgt dafür, dass diese Droge in Deutschland weder Verbreitung findet noch hier erzeugt wird, noch Menschen in oder über Deutschland damit Geld verdienen können." Erst kürzlich hat sich der Auswärtige Ausschuss im Deutschen Bundestag mit dem Thema beschäftigt. Abgesehen davon ist das Thema auf der bundespolitischen Bühne noch nicht wirklich angekommen. Das Auswärtige Amt betont auf Anfrage, in engem Kontakt mit internationalen Partnern zu stehen, "um die Produktion und den Handel mit Captagon zu bekämpfen."
Deutsche Sicherheitsbehörden haben inzwischen die Notwendigkeit einer bundesweiten Vernetzung von Ermittlungen erkannt. Das BKA bestätigte, dass es vor wenigen Monaten ein Arbeitstreffen gegeben habe. Bei diesem hätten Ermittler von BKA, Länderpolizeien und Staatsanwaltschaften an einem Tisch gesessen, um über das Captagon-Problem und die Ermittlungen zu sprechen. "Ich glaube, das Captagonthema wird uns noch länger beschäftigen", so die Einschätzung von BKA-Mann Preisler.
Im Video: Kampf gegen Drogen - Unterwegs mit einem Substitutionsarzt in Niederbayern
Dieser Artikel ist erstmals am 8. Oktober 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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