Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatten Ermittler einen Fund gemacht, der für Aufsehen sorgte: In einer Regensburger Autowerkstatt entdeckten sie eine illegale Produktionsstätte für die Aufputschdroge Captagon - und damit das bislang größte bekannte Drogenlabor für Captagon-Tabletten in Deutschland. Zwei Syrer wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Nun steht eine weitere mutmaßliche Drogenbande vor Gericht – nach dem bislang größten Captagon-Fund auf deutschem Boden: Im Herbst vergangenen Jahres fanden Zollfahnder in einem Garagenkomplex bei Aachen ein Drogenlager mit über zwei Millionen Captagon-Tabletten, versteckt in Sandsäcken und einem Koffer. Vier tatverdächtige Syrer sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Am 24. Juli 2024 beginnt am Landgericht Aachen der Prozess gegen die Männer.
Drei Fallkomplexe hat die Staatsanwaltschaft Aachen angeklagt. Dabei geht es um etwas mehr als 480 Kilogramm Captagon – wovon gut drei Viertel sichergestellt werden konnten. Die Staatsanwaltschaft geht hierbei von einem Straßenverkaufswert von rund 60 Millionen Euro aus.
Aufputschdroge sollte in den Nahen Osten verschickt werden
Die angeklagten Männer zwischen 33 und 46 Jahren wollten die illegalen Aufputsch-Tabletten nach Saudi-Arabien, Katar, Bahrain sowie Australien schmuggeln, so die Pressestelle des Landgerichts Aachen auf Anfrage von BR, MDR, RBB, SWR, der F.A.Z. und der Mediengruppe Bayern. Die Staatsanwaltschaft wirft den Männern bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vor. Im Fall einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 15 Jahre Haft.
Beamte des Zollfahndungsamts Essen hatten bereits Ende 2022 mit den Ermittlungen begonnen. Ausgangspunkt war eine Kontrolle von mehreren Paketen mit Bremszylindern am Flughafen Köln/Bonn. Da die Kontrolleure diese nicht durchleuchten konnten, schraubten sie die Zylinder auf und fanden darin gut zehn Kilogramm Captagon.
Drogen in "Tarnwaren" versteckt
Weitere Ermittlungen führten zu den mutmaßlichen Tätern, die nach Erkenntnis der Ermittler bereits seit Oktober 2021 den Rauschgiftschmuggel geplant haben sollen. In mehreren angemieteten Lagerräumen im Raum Aachen sollen sie Captagon-Tabletten in und unter legalen Versandprodukten, sogenannten Tarnwaren, versteckt haben: unter anderem in Duftkerzen, in einem Elektrokamin oder in einem Raumluftreiniger.
Woher die Tabletten stammten, ist nach Auskunft der Pressestelle des Landgerichts Aachen unklar. Nach gemeinsamen Recherchen von BR, MDR, SWR, RBB, F.A.Z. und der Mediengruppe Bayern hat mindestens einer der Angeklagten seine Beteiligung gestanden und mit den Ermittlern kooperiert. Der Aachener Strafverteidiger Björn Hühne betont, dass die Dimension des Handels, die sich erst im Laufe der Ermittlungen zeigte, selbst seinen Mandanten überrascht habe. "Den Rest muss die Hauptverhandlung zeigen", so Hühne.
Die Ermittler konnten wohl durch einen Kronzeugen und Handyauswertungen auch bis dato unbekannte Lieferungen nachweisen. Bereits im Juli 2022 soll laut Anklage eine Sendung Tabletten im fünfstelligen Bereich ins australische Sydney gegangen sein. Außerdem soll es im Aachener Fall eine Vielzahl weiterer Verdächtiger im In- und Ausland geben. Katja Schlenkermann-Pitts, Sprecherin der Aachener Staatsanwaltschaft, bestätigte, "dass die Ermittlungen im Hintergrund weitergeführt werden". Unklar ist, ob es Verbindungen zu weiteren Fällen in Deutschland gibt.
Captagon breitet sich auch in Deutschland aus
Nur wenige Monate vor der Razzia im Raum Aachen hatte das Bundeskriminalamt die Produktionsstätte in Regensburg ausgehoben. In der Autowerkstatt konnte das Bundeskriminalamt gemeinsam mit dem Landeskriminalamt Bayern im Juli 2023 mehr als 300 Kilo Tabletten und Rohstoffe für weitere drei Tonnen sicherstellen. Der Straßenwert der sichergestellten Tabletten lag bei rund 35 Millionen Euro.
Deutschland wird - das zeigen Recherchen - offenbar immer mehr zum Transitland im internationalen Captagon-Schmuggel, um durch die Herkunft der Lieferungen aus Europa die Gefahr von Kontrollen in den Zielländern zu minimieren. Gut 800 Kilogramm Captagon wurden allein im Jahr 2023 sichergestellt, laut dem jüngst veröffentlichten "Bundeslagebild Rauschgiftkriminalität" des Bundeskriminalamtes entspricht dies einem großen Anteil der gesamten Amphetamin-Beschlagnahmung. Ermittler gehen allerdings davon aus, dass die tatsächliche Menge an geschmuggelten Pillen zehnmal so hoch ist.
Drogengelder für das Assad-Regime?
Captagon, das hauptsächlich aus Amphetamin besteht, wird neben Syrien oft auch im Libanon in illegalen Produktionsstätten hergestellt und überwiegend in den arabischen Raum geschmuggelt. Das syrische Regime steht im Verdacht, an diesem milliardenschweren Geschäft beteiligt zu sein. In vielen Fällen erreicht die Ware Europa auf dem Land- oder Seeweg, wo die Drogen umgepackt und per Schiff oder Flugzeug weitergeschickt werden. Tatverdächtig in Deutschland sind in den bislang aufgedeckten Fällen meist Syrer.
Der Islamwissenschaftler Caspar Schliephack zeigt sich alarmiert. Der milliardenschwere illegale Handel mit Captagon fülle "die Kassen des international geächteten Assad-Regimes". Viele Nachbarländer Syriens würden seit Jahren eine regelrechte Captagon-Schwemme mit vermutlich hunderttausende Konsumenten und Abhängigen erleben. "Neben der Droge drohen auch Konsumgewohnheiten aus dem Mittleren Osten nach Europa zu gelangen", so Schliephack.
Anfang Oktober geriet die Droge weltweit in die Schlagzeilen, nachdem israelische Medien berichteten, Hamas-Terroristen hätten bei dem Überfall auf Israel am 7. Oktober Captagon-Tabletten bei sich gehabt. Captagon unterdrückt Müdigkeit und Ängste, wirkt aufputschend und macht hochgradig abhängig. Auch der sogenannte IS steht im Verdacht, seinen Kämpfern Captagon zu geben.
Von Arne Meyer-Fünffinger, Lisa Wreschniok, BR, Ludwig Kendzia, Nadja Malak, MDR, René Althammer, RBB, Ahmet Senyurt, SWR und André Baumgarten, Mediengruppe Bayern
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