Es dauert an diesem Vormittag nur wenige Minuten, bis das Parlament auf Betriebstemperatur ist. "Ihre Koalition ist keine Koalition des Fortschritts, es ist eine Koalition des Abstiegs in diesem Land", ruft ein aufgebrachter Oppositionsvertreter dem Kanzler zu. Ob Deutschland unter Führung der Ampel sicherer geworden sei, so die rhetorische Frage an seine Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion. Und er liefert gleich die aus seiner Sicht naheliegende Antwort: "nein". Ob das Land wettbewerbsfähiger geworden sei? Oder politisch stabiler? Da tönt es im Chor aus den Reihen der Union: nein und nochmals nein.
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Normalweise stünde zum Auftakt der Generaldebatte im Bundestag Friedrich Merz am Rednerpult, Unionsfraktionschef und Oppositionsführer. Doch Merz hält sich zunächst zurück – offenbar will er diesmal erst nach dem Kanzler sprechen, um auf dessen erwartbare Attacken reagieren zu können. Und so läutet Alexander Dobrindt die Debatte ein, der Chef der CSU-Abgeordneten in Berlin. Der Abgeordnete aus Oberbayern tritt gewohnt kämpferisch auf: Niemand im Land wünsche sich eine Fortsetzung der Koalition. "Absolut niemand." Dobrindts Fraktionskollegen applaudieren, im Regierungslager dagegen sieht man angesichts der schlechten Umfragewerte für die Ampel eher betretene Gesichter.
Scholz betont wirtschaftlichen Nutzen von Einwanderung
Der Kanzler hört der Rede des Christsozialen überwiegend reglos von der Regierungsbank aus zu. Dann ist er dran. Erst arbeitet sich Olaf Scholz an der AfD ab, dann geht er auf die Einwanderung ein, das große Thema auch in dieser Haushaltswoche. Etwas überraschend betont der Kanzler zunächst die Chancen von gesteuerter Migration – der Versuch, einen anderen Ton in der Einwanderungsdebatte zu setzen: "Dass wir es in den letzten Jahren hinbekommen haben, dass unser Land wirtschaftlich erfolgreich gewesen ist", liege auch an Eingewanderten, die "mit angepackt haben".
Der SPD-Politiker sagt aber auch: "Weltoffenheit bedeutet nicht, dass jeder kommen kann, der das möchte." Das heißt: weniger unerlaubte Einreisen und mehr Abschiebungen. Dann nimmt er sich die Union vor, in deren Reihen er Politiker vermutet, die meinten, die Migrationsfrage lasse sich mit einem Zeitungsinterview lösen. Da johlen die Sozialdemokraten unter der Bundestagskuppel – ein seltener Anblick in dieser Wahlperiode.
Kanzler wirft Union politische Feigheit vor
In diesem Stil geht es weiter. Die Bürger wollten "nicht irgendwelche Theateraufführungen erleben", sagt der Kanzler mit Blick auf den Ausstieg der Unionsfraktion aus den Migrationsgesprächen mit der Regierung. "Sie haben sich in die Büsche geschlagen", wirft er Merz vor. Und mehr noch: Der Oppositionsführer habe "vor zwei, drei Wochen ein Drehbuch geschrieben" – angeblich mit dem Ziel, Kooperationsbereitschaft nur zum Schein zu signalisieren.
Ein Vorwurf, den der Unionsfraktionschef später zurückweist. Es sei "infam" zu behaupten, die anfängliche Gesprächsbereitschaft der Opposition sei inszeniert gewesen. Scholz schaut in dem Moment hinüber zum Rednerpult, sein Blick drückt irgendetwas zwischen Strenge und Genervtheit aus. Das Verhältnis der beiden gilt ohnehin als unterkühlt, und in dieser Woche dürfte es sich nicht verbessert haben.
Merz gegen weitere Migrationsgespräche mit Ampel
Einmal mehr fordert Merz "umfassende Zurückweisungen" von Menschen ohne Schutzanspruch in Deutschland – und zwar gleich an der Grenze. Die Vorschläge der Ampel bleiben aus seiner Sicht weit hinter den Erwartungen zurück. "Wir begeben uns nicht in eine Endlosschleife von Gesprächen." Die Ampel solle Entscheidungen treffen, über die man dann gern im Bundestag sprechen könne. Eine Absage an weitere informelle Runden in Sachen Migration.
Der Oppositionsführer schlägt aber auch nachdenkliche Töne an. Zu Beginn seiner Rede erinnert er an die islamistischen Anschläge auf New York und Washington vor genau 23 Jahren. Und an die Opfer des russischen Angriffs auf die Ukraine. Ungeachtet von innenpolitischen Fragen müsse klar sein, "dass wir uns an Terror und Gewalt, dass wir uns an den Krieg gegen die Ukraine niemals gewöhnen".
Ähnlich wie Scholz betont auch Merz Vorteile von gesteuerter Einwanderung. Nach den Worten des CDU-Chefs sind Kliniken, Altenpflegeheime, Schulen oder Gastronomiebetriebe auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. "Deutschland muss ein offenes und ausländerfreundliches Land bleiben", stellt Merz fest. Insgesamt wirft der Auftritt des Oppositionsführers die Frage auf, ob sich Union und Kanzler in der Migrationspolitik letztlich doch näher sind, als es zuletzt den Anschein hatte. Die Antwort werden beide Seiten in den nächsten Tagen und Wochen geben.
Zum Video - Politikwissenschaftler von Lucke zur Generaldebatte:
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