Der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag hat nach eigenen Angaben Haftbefehle für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, dessen Verteidigungsminister Joaw Galant und drei Führer der islamistischen Hamas beantragt.
Karim Khan sagte am Montag, er glaube, dass Netanjahu, Galant und drei Hamas-Führer im Zusammenhang mit dem seit mehr als sieben Monaten andauernden Gaza-Krieg für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazastreifen und in Israel verantwortlich seien. Bei den Hamas-Führern handelt es sich um Jehia Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Hanija.
Khan wirft Israel Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor
Zum israelischen Vorgehen hieß es in einer Erklärung Khans, dass "die Auswirkungen des Einsatzes von Hunger als Methode der Kriegsführung zusammen mit anderen Angriffen und kollektiven Bestrafungen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza akut, sichtbar und weithin bekannt" seien.
Dazu gehörten "Unterernährung, Dehydrierung, tiefes Leid und eine wachsende Zahl von Todesfällen unter der palästinensischen Bevölkerung, darunter Babys, andere Kinder und Frauen". Es gebe genug Gründe für die Annahme, dass Netanjahu die Verantwortung trage für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, teilte Khan am Montag mit.
Empörung in der israelischen Regierung
In Israel löste dies Empörung aus. Der Antrag auf einen Haftbefehl gegen Netanjahu und Galant sei selbst "ein Verbrechen von historischem Ausmaß", sagte der Minister des israelischen Kriegskabinetts, Benny Gantz. "Parallelen zwischen den Führern eines demokratischen Landes, das entschlossen ist, sich gegen den verabscheuungswürdigen Terror zu verteidigen, und den Führern einer blutrünstigen Terrororganisation (Hamas), zu ziehen, ist eine tiefe Verzerrung der Gerechtigkeit und ein eklatanter moralischer Bankrott", sagte Gantz.
Die Terrororganisation Hamas forderte hingegen eine Strafverfolgung aller israelischen Befehlshaber. In einer am Montagabend veröffentlichten Stellungnahme hieß es, der Antrag auf Haftbefehle käme sieben Monate zu spät. Verfolgt werden sollten auch alle Soldaten, die an "Verbrechen gegen das palästinensische Volk" beteiligt gewesen seien.
So reagiert Netanjahu auf seinen Haftbefehl
"Das ist eine vollständige Verzerrung der Realität", sagte Netanjahu am Abend in einer auf der Plattform X veröffentlichten Videobotschaft. Der "absurde" und falsche Antrag richte sich nicht nur gegen ihn und Galant, "er richtet sich gegen den gesamten Staat Israel". Der Antrag sei ein Beispiel eines "neuen Antisemitismus", der von Universitätsgeländen nach Den Haag gezogen sei, sagte Netanjahu mit Anspielung auf die propalästinensischen Proteste an Hochschulen.
Israels Präsident Itzchak Herzog wies den Antrag auf Haftbefehl gegen Netanjahu und Galant ebenfalls als "mehr als empörend" zurück. Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid sprach am Montag von einem "völligen moralischen Versagen".
Auch Haftbefehle gegen drei Hamas-Führer
Zum Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober, der den Gaza-Krieg auslöste, sagte Khan, er habe "die verheerenden Szenen dieser Angriffe und die tiefgreifenden Auswirkungen der skrupellosen Verbrechen, die in den heute eingereichten Anträgen angeführt werden", mit eigenen Augen gesehen.
In Gesprächen mit Überlebenden habe er erfahren, "wie die Liebe innerhalb einer Familie, die tiefsten Bindungen zwischen Eltern und Kindern, verzerrt wurden, um durch kalkulierte Grausamkeit und extreme Gefühllosigkeit unvorstellbaren Schmerz zu verursachen. Für diese Taten muss Rechenschaft abgelegt werden."
Was passiert als Nächstes?
Der Chefankläger muss die Haftbefehle bei einem aus drei Richtern bestehenden Voruntersuchungsausschuss beantragen, der durchschnittlich zwei Monate braucht, um die Beweislage zu prüfen und zu entscheiden, ob das Verfahren fortgesetzt werden kann.
Israel ist kein Vertragsstaat des IStGH. Selbst wenn die Haftbefehle ausgestellt werden sollten, droht Netanjahu und Galant keine unmittelbare strafrechtliche Verfolgung. Khans Ankündigung vertieft aber die internationale Isolierung Israels, und das Risiko einer Inhaftierung könnte den israelischen Politikern Auslandsreisen erschweren.
Galant hält an Rafah-Plänen fest
Ob die Nachricht aus Den Haag Auswirkungen auf die Art der Kriegsführung im Gazastreifen haben wird, darf bezweifelt werden. Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant, gegen den ebenfalls ein Haftbefehl beantragt wurde, hält an einer Ausweitung des Militäreinsatzes in der Grenzstadt Rafah im südlichen Gazastreifen trotz der Appelle der USA und anderer westlicher Verbündeter fest.
Erst am Sonntag sollen bei einem israelischen Luftangriff im zentralen Gazastreifen im Flüchtlingslager Nusseirat 27 Menschen getötet worden sein, unter ihnen zehn Frauen und sieben Kinder. Das geht aus Unterlagen des Al-Aksa-Märtyrer-Krankenhauses im nahe gelegenen Deir al-Balah hervor, in das die Leichen gebracht wurden.
Auslöser des Kriegs war das Massaker mit mehr als 1.200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten. Im folgenden Krieg wurden nach Angaben der von der islamistischen Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 35.000 Palästinenser getötet. Die Vereinten Nationen haben die Angaben der Gesundheitsbehörde mehrfach als glaubhaft bezeichnet. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass ein Drittel der Opfer Kinder sind.
SPD-Außenpolitiker empfiehlt Israel eigene Ermittlung wegen möglicher Kriegsverbrechen
Der außenpolitische Sprecher der SPD, Nils Schmid, sieht israelische Behörden jetzt am Zug. Er forderte sie am Montag auf, selbst Untersuchungen wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Völkerrecht im Krieg im Gazastreifen aufzunehmen. "Die israelischen Behörden können nun selbst Ermittlungen aufnehmen – denn die Ermittlungen des IStGH sind nachrangig zu einer nationalen Untersuchung", sagte Schmid der Nachrichtenagentur Reuters. Hinweisen auf mögliche Kriegsverbrechen sollten die israelischen Behörden nachgehen.
Schmidt forderte die Bundesregierung auf, das Vorgehen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu akzeptieren. "Die deutsche Außenpolitik ist dem Völkerrecht und seinen Institutionen verpflichtet und sollte die Arbeit des IStGH auch in dieser Frage respektieren", sagte der SPD-Politiker.
Mit Informationen von dpa, KNA, AFP, Reuters
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